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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ließ, während die Herren, die wußten, was sich gehörte, Banknoten der Länge nach falteten und wie Stimmzettel in seine weiten Ärmel gleiten ließen. Bruno hatte sich zum Zimbalisten gesetzt. »Ist dir schon einmal aufgefallen, daß Menschen oft sehr viel wissen über Dinge, mit denen sie wenig zu tun haben? Menschen, die im KZ waren, wissen nichts über die Struktur von Himmlers Reichssicherheitshauptamt , aber ich weiß alles bis in die Details, ich könnte es dir einfach aufzeichnen. Aber ich habe keine Ahnung, wie bei uns im Senat gewählt wird.«
    »Das kann ich dir ja mal erklären.«
    »Natürlich. Aber du bist erblich vorbelastet.«
    »Ein wahres Wort. Du nicht.«
    »Du weißt alles über Sprachen, aber was hast du damit zu tun? Ich weiß alles über Sterne, aber was habe ich damit zu tun?«
    »Augenblick. Du bist doch nicht etwa so dumm zu glauben, daß du mehr mit dem Senat zu tun hast als mit dem Reichssicherheitshauptamt?«
    Max schwieg. Das Gespräch verwirrte ihn noch mehr. Vor fünf Jahren hatte er Tag für Tag den Eichmann-Prozeß in Jerusalem verfolgt und diesen Mann mit dem asymmetrischen Gesicht in seinem gläsernen Käfig beobachtet, Eichmann, der aussah wie eine mechanische Puppe aus einer Erzählung von E. T. A. Hoffmann. Von den unzähligen Büchern, die damals über die Nazizeit erschienen, hatte er ein halbes Dutzend gelesen. Natürlich hatte er dabei auch an seinen Vater gedacht und an dessen Prozeß, aber die Idee, daß es noch Zeitungen aus dem Jahr 1946 gab, war ihm nie gekommen. Irgendwie nahm er einfach an, das alles sei in der Vergangenheit versunken, zermalmt von der Zeit. Sogar über den Prozeß Loeb-Leopold wußte er mehr. Aber das alles existierte noch!
    Er sah auf.
    »Soll ich dir mal was sagen? Morgen will ich es sehen. Einmal muß es ja sein. Im Presseinstitut haben sie die alten Zeitungen alle. Ich hätte gerne, daß du mitkommst.«
    Onno überlegte kurz.
    »Vielleicht können wir die Sache auch etwas gründlicher angehen. Ich nehme an, daß sich seine Akte heute im staatlichen Institut für Kriegsdokumentation befindet. Wenn wir dahin gehen?«
    »Meinst du, das ist öffentlich?«
    »Natürlich nicht. Aber du bist ja immerhin der schreckliche Sohn von diesem schrecklichen Vater! Und außerdem bist du der Sohn deiner ermordeten Mutter. Wenn sie sich weigern, schalte ich meinen widerlichen Bruder ein oder, falls nötig, meinen Vater, und dann will ich sie noch einmal nein sagen hören. Aber weil sie das alles wissen, ist es eigentlich schon geschehen, bevor es passiert ist.«
    Sie verabschiedeten sich von Bruno, und Max brachte Onno bis zu seiner Wohnungstür; sie verabredeten, daß Onno ihn am nächsten Morgen um zehn Uhr abholen würde. Max würde den Vormittag frei nehmen. Es schien ihnen besser, das Institut vorher nicht anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren, denn das konnte dazu benutzt werden, die Sache auf die lange Bank zu schieben.
    Auf dem Nachhauseweg fühlte Max kurz seinen Puls: zu schnell, aber nicht unregelmäßig. Morgen würde er anfangen, Licht in seine Vergangenheit zu bringen. Er besaß nicht einmal Bilder von seinen Eltern, bei ihren Verhaftungen war vieles abhanden gekommen. An seine Mutter konnte er sich noch gut erinnern: eine junge, aufgeweckte Frau im Zimmer, am Klavier, auf der Straße, im Park, auf der linken Seite all ihrer Kleider war der Davidstern aufgenäht, der in höhnischen, quasihebräischen Buchstaben das Wort Jude trug. Er erinnerte sich, wie sie lachend und in einer Art armseligem Triumph sagte: »Er ist ja gar nicht gelb, er ist orange!« Die Erinnerung an seinen Vater beschränkte sich auf eine einzige erstarrte Szene an Heiligabend – der in den Niederlanden unbekannt war, den sie aber auf mitteleuropäische Art zu feiern pflegten; er hatte in seinem Zimmer bleiben müssen, bis der Weihnachtsbaum geschmückt und die Kerzen angezündet waren. Sein Vater war ebensowenig religiös wie seine Mutter; das einzig Christliche an einem ganz und gar heidnisch-germanischen Symbol der Sonnenwende wie dem geschmückten Baum mit den Lichtern darauf war – so war ihm später klargeworden – ohnehin nur das roh zusammengezimmerte Holzkreuz, das den Baum halten sollte. Aber gerade das wurde mit rotem Kreppapier verhüllt, und man legte die Geschenke darauf. Vielleicht gab es Streit, oder es war seine Ungeduld oder die gereizte Stimmung, auf jeden Fall glaubte er, gerufen worden zu sein. Er ging ins Wohnzimmer, und was er sah, brannte sich

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