Die Entdeckung des Himmels
etwas sagen. Bruno meinte, er spreche nur einige Worte Deutsch.
»Onno?«
»Wenn du nur nicht meinst, daß ich die fünfundsechzigtausend Dialekte dieser Leute spreche.«
Er versuchte es auf ungarisch, aber das führte zu nichts.
Dann versuchte er es anders, und plötzlich hellte sich das Gesicht des Geigers auf und zeigte ein breites Lachen. Er legte eine Hand auf Onnos Schulter und wandte sich in derselben Sprache an seine Freunde, die »Bravo!« und »Hopp, hopp!«
riefen.
»Was hast du jetzt gesprochen?« fragte Max.
»Keine Ahnung. Eine Art Serbokroatisch, glaube ich. Er versteht es auf jeden Fall. Was wolltest du ihm sagen?«
In Diktiergeschwindigkeit sagte Max:
»Sage ihm, daß Zigeuner für mich heilig sind, weil sie das einzige Volk auf Erden sind, das nie einen Krieg geführt hat.«
Onno tat, um was er gebeten worden war, und das Lachen wich aus dem großen Gesicht.
»Das war’s?«
»Nein. Sag ihm, daß sie nur deshalb, weil sie keine Mörder sind, von allen für Diebe gehalten werden, daß wir ihnen aber sogar ihren Tod gestohlen haben.«
»Was meinst du denn damit?«
»Daß sie ebenso vergast und ausgerottet worden sind wie die Juden, daß das aber verschwiegen wird, um sie weiterhin schikanieren zu können, auch in den Niederlanden.«
»Bist du dir ganz sicher, daß ich das sagen soll?«
»Ja.«
Die Wirkung war erschütternd. Mit dem Instrument unter dem Arm sah der Geiger Max unentwegt an, während seine Augen sich mit Tränen füllten. Er drehte sich um und rief den anderen mit erstickter Stimme etwas zu, das Onno übersetzte als: »Roma! Sammeln!« Auch der Bassist kam jetzt, und auch der Zimbalist mit seinem Instrument, wofür Gäste aufstehen und Tische verrückt werden mußten; der zweite Geiger ließ sich von Bruno sein Instrument wiedergeben. Kurz darauf hatte sich das Orchester in einem Halbkreis um Max aufgestellt und begann für ihn zu spielen und zu singen – in ihrer eigenen Sprache, wie Onno vermutete: irgendeine neu-indische Variante des Hindi, soweit er hören konnte, mit Elementen aus dem Iranischen, dem Armenischen, dem Neu-griechischen und dem Südslawischen, der Himmel mochte wissen, was noch alles.
Man kann jemanden, der auf einem Stuhl sitzt, umstellen und vernichten mit Drohungen, Schlägen und Stromstößen, aber hier wurde jemand mit Dankbarkeit in Form von Musik zerlegt. Max liefen die Tränen – zum zweiten Mal an diesem Abend. Mit einer entschuldigenden Geste sah er kurz zu Onno, der merkte, daß ihn die Musiker jetzt erbarmungslos zu seinem Ursprung zurückmusizierten, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es war Onno völlig fremd, was da geschah, ein musikalischer Skandal, am liebsten hätte er dem Ganzen sofort ein Ende gemacht. Andererseits wurde seine Zuneigung für Max nur noch größer. Was war das für ein Mann, der mit wenigen Worten ein kitschiges Streichensemble in einer Nebengasse in ein Orchester verwandeln konnte, das eine Missa Solemnis für die Toten zelebrierte? Er sah zu Bruno und sah auf dessen Gesicht einen Ausdruck, der besagte: Ada steht ihm zu.
Nach der Litanei hob Max die Hände in einer rituellen Geste des Dankes. Die Musiker zogen sich zurück, er nahm einen Schluck von seinem Orangensaft und sagte aufgewühlt: »Heute ist es genau einundzwanzig Jahre her, daß mein Vater hingerichtet wurde.«
Als Bruno das hörte, stand er auf und ging. Onno wollte das Glas an seinen Mund setzen, stellte es aber wieder ab. Da war es. Die Zigeuner hatten den Kern getroffen. Jetzt mußte er sehr vorsichtig sein, aber er konnte es sich nicht verbeißen zu fragen:
»Hast du eine Kerze für ihn angezündet?«
»Es fällt mir jetzt erst ein.«
»Kannst du dich noch daran erinnern, als du es erfahren hast?«
»Kaum. Ich war zwölf. Ich glaube auch nicht, daß es mich sehr berührte. Ich hatte ihn zuletzt gesehen, als ich sechs war.«
Onno nickte. Was jetzt? Max hatte damit angefangen – er durfte jetzt nicht damit allein gelassen werden.
»Hast du die Zeitungen aus dieser Zeit schon einmal durchgesehen? Hast du dich mit seinem Prozeß beschäftigt?«
»Die Idee ist mir nie gekommen. Ich weiß fast nichts über ihn, nicht einmal, wo genau er geboren wurde, und an welchem Tag. Ich hatte immer das Gefühl, ich könnte es meiner Mutter nicht antun, mich für meinen Vater zu interessieren.«
Nachdenklich sah er zum Primasch , der nun wieder zwischen den Tischen umherging, sich geigend über die Damen beugte und tiefe Blicke in die Dekolletés sinken
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