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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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wollen. Einige Male hatte sie mit dem Gedanken gespielt, die Pille abzusetzen, um dann weiterzusehen. Die Vorstellung eines kleinen Max oder einer kleinen Maxima, die oder der durch das Zimmer tapste, machte sie weich wie ein zerfallendes Stück Zucker in einer Tasse heißem Tee; das Kind hätte sie auf jeden Fall geliebt. Aber dann würde ihre musikalische Karriere ungewiß, also konnte von einem Kind keine Rede sein. Natürlich wußte sie, daß er auch mit anderen Frauen schlief, die Zeichen dafür, die blonden Haare, die Kippen mit Lippenstift im Mülleimer, entgingen ihr natürlich nicht. Aber das machte ihr nicht viel aus, denn sie wußte auch, daß er diese Frauen schon wieder vergessen hatte, bevor er sie sah. Doch jetzt war etwas Unwiderrufliches passiert.
    Sie sah sich um. Es war aus und vorbei. Sie setzte sich an seinen leeren, aufgeräumten Schreibtisch und zog eine Schublade auf, in der er seinen ›Schreibwarenladen‹ hatte, wie er das nannte: Papier in allen Formaten und Ausführungen, Dutzende von Heften und Mappen, von winzigen Notizblöcken bis zu dicken Folianten mit verstärkten Ecken, alle möglichen Schreibblöcke, auch mit gelbem und blauem Papier aus den Vereinigten Staaten, unlinierte, linierte, karierte Karteikarten in sorgfältig geordneten Pyramiden, genug für ein ganzes Leben. »Was das Papier betrifft «, hatte er einmal gesagt, »sehe ich dem Dritten Weltkrieg gelassen entgegen.« Sie nahm einen einfachen Bogen Schreibmaschinenpapier und legte ihn auf die Schreibunterlage. Aus dem Stifthalter nahm sie einen gelben Bleistift mit einem Radiergummi am Ende und starrte nachdenklich auf die museumsreife Reihe von Instrumenten am Rand des Schreibtisches: der Magnet, das Prisma, die Sanduhr, der Taschenspiegel, das Lineal, die Lupe, der Kompaß, die Stimmgabel …

    Die Beamten des Staatlichen Instituts für Kriegsdokumentation wunderten sich, als sie plötzlich einen Delius und einen Quist vor sich hatten. Dabei war das nicht merkwürdiger als die Tatsache, daß ihr eigener Nachbar an der Herengracht das deutsche Goetheinstitut war. Auf jeden Fall schien es ihnen ein Fall für den Direktor zu sein. Über Eichentreppen und Gänge aus Marmor, die man mit Regalen voller Ordner verunstaltet hatte, wurden Max und Onno in dessen ruhiges Zimmer auf der Rückseite des Gebäudes mit Aussicht auf einen geometrisch angelegten Garten aus dem siebzehnten Jahrhundert geführt. – Der Direktor schrieb gerade etwas auf einen Block und sah auf. Sie kannten sein Gesicht. Im Fernsehen hatte er vor einigen Jahren eine Reihe von Sendungen über die deutsche Besatzung gemacht; jetzt hatte er den Auftrag, diesen Zeitraum Tag für Tag zu dokumentieren, zwanzig dicke Bände im Umfang. Seinem traurigen Gesicht war anzusehen, daß es nichts gab, was er nicht über den Krieg wußte, den er in London überstanden hatte; die Trauer, die dreimal länger als der Krieg dauern sollte, hatte er im Andenken an seinen Zwillingsbruder auf sich genommen, der nicht nach England hatte entkommen können und vergast worden war.
    In einigen knappen Sätzen erzählte Max ihm seine eigene Geschichte, die so ganz anders war.
    »Es geht darum«, schloß er, »daß mein Vater die Kugel bekommen hat, weil er meine Mutter in den Tod gejagt hat.«
    »Ich weiß, Herr Delius, ich weiß.«
    »Aber er bleibt doch mein Vater. Ich würde gerne seine Akte einsehen.«
    Der Direktor nickte. »Und weshalb gerade jetzt?«
    Sollte er ihm von den Zigeunern erzählen? Aber auch das war natürlich nicht der Grund.
    »Vielleicht, weil jetzt die Zeit gekommen ist.«
    »Nun«, sagte der Direktor, »ich sehe eigentlich keinen Grund, der dagegen spricht. Wir leben überdies in einer Zeit der Offenheit und Demokratisierung, wenn ich das recht verstanden habe. Und Sie, Herr Quist, welche Rolle spielen Sie dabei? Darf ich Ihnen übrigens noch nachträglich zu Ihrem Ehrendoktorat gratulieren? Wir machen eigentlich alle dasselbe, nicht wahr?«
    Onno war einen Moment lang sprachlos.
    »Sie vergessen also nie etwas.«
    »Dazu ist man Historiker.«
    »Ich bin hier lediglich als Freund.«
    »Das reicht für mich«, sagte der Direktor und nahm den Telefonhörer. »Adriaan? Ich habe hier die Herren Delius und Quist. – Wie bitte? – Ja, genau. Es handelt sich um die Sache Wolfgang Delius. Sei so nett und hilf ihnen, ich schicke sie zu dir.«
    Max hatte den Vornamen seines Vaters nicht genannt; es schockierte ihn, diesen so selbstverständlich aus dem Munde des Direktors

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