Die Entdeckung des Himmels
vielleicht ergebe sich einmal die Gelegenheit einer Einladung, aber die companera wolle ihm nur ihre eigene Adresse geben. Sein Machtinstinkt hatte ihm offenbar gesagt, daß er sich an Ada wenden sollte und nicht an Bruno. Über Onno erklärte Ada ihm, sie habe nichts mit einer derartigen Instanz zu tun, so sei das musikalische Leben in den Niederlanden nicht organisiert, und mit einer gewissen Befremdung notierte der Kubaner jetzt ihren Namen und ihre Anschrift.
»Das wäre doch was«, sagte Max, als der Kubaner verschwunden war.
»Ich kenne das«, sagte Bruno. »Von denen hört man nie mehr etwas. Der will sich nur wichtig machen.«
»Meinst du nun wirklich«, fragte Ada, »daß wir nach Kuba eingeladen werden? Es gibt Tausende besserer Duos.«
»Aber die treten nicht bei linken Veranstaltungen auf.«
»Ich muß das alles erst sehen, ich will jetzt nicht daran denken. Wollen wir gehen?«
Die Stühle wurden bereits auf die Tische gestellt, und jeder machte Anstalten aufzubrechen. Bruno sagte, er wolle noch in die Stadt: es trete ein Zigeunerorchester auf, das er hören wolle. Ada sah Max an.
»Ich sehe dir an, daß du mitgehen möchtest. Geh nur, ich muß jetzt ohnehin schlafen gehen.«
»Darf ich auch mitkommen, darf ich auch mitkommen?«
quengelte Onno wie ein kleiner Junge mit gerecktem Zeigefinger.
»Ja, Liebling«, sagte Max, »du darfst auch mitkommen.«
»Sag mal!« rief Onno. »Bist du völlig verrückt geworden!«
Max gab Ada den Hausschlüssel, und während er sie fest ansah, sagte er: »Geh die Stufen hinauf und zähle bis vier. Ganz rechts findest du dann einen halben Ziegelstein, der locker ist. Heb ihn hoch, leg den Schlüssel hin und leg den Stein wieder an seinen Platz.«
Das Zigeunerorchester spielte in einer dunklen Bar hinter dem Rembrandtplein. Bruno kannte die Musiker offenbar. Er begrüßte den Primasch , der, gefolgt von der zweiten Geige, durch das Publikum ging, und winkte dem Zimbalisten und dem Baß in der Ecke zu. Der zweite Geiger hob fragend sein Instrument, woraufh in Bruno ihm die Geige abnahm und sich als gewandter Stehgeiger entpuppte, der keine Mühe hatte mit dem Csardas und auch nicht mit den »Hopp-hopp«-Rufen.
Als Max die Musik hörte, zerschmolz sofort etwas in ihm.
Niemand brauchte ihm etwas über den Status dieser Musik und ihr Verhältnis zu beispielsweise der Großen Fuge zu erzählen: das drückten schon die glänzenden Hemden mit den weiten Ärmeln aus. Aber zugleich hielt sich etwas darin verborgen, das bei Beethoven nicht vorkam und auch nicht bei Bach, und das er schon empfand, wenn er zu Hause auf dem Flügel die harmonische Zigeunertonleiter mit der erhöhten vierten Note spielte: den mitteleuropäisch-jüdisch-zigeunerhaften Schluchzer, der ihn wehrlos machte.
Als eine langsame Nummer gespielt wurde, beugte sich der Primasch an ihrem Tisch über ihn und Onno, die Freunde seines Freundes. Er war um die Fünfzig; in seinem außergewöhnlich großen, fleischigen Gesicht waren die Augenlider dick und schwer vor Melancholie, wie Schirme, so daß er sie kaum über die Pupillen heben konnte. An den Schläfen wuchs sein schwarzes Haar bis hinunter zum Unterkiefer; eine façon , die in Max’ Studentenzeit ›Bumslatten‹ genannt wurde, weil die holde Weiblichkeit sich während der Arbeit daran festhalten konnte. Onno, der weniger die Musik als die bedrohliche Verbannung nach Ameland im Ohr hatte, wandte sich geniert ab und zündete sich eine Zigarette an. Max, der dem Blick des Geigers standhielt, mußte plötzlich an seinen Vater denken.
Auch der hatte diese Musik gehört, da, wo sie herkam, in österreichisch-ungarischen Gefilden, Wien, Prag, Budapest, als er von den Niederlanden gerade so viel Vages gehört hatte wie sein Sohn heute von Island: etwas, das weit weg war, Ultima Thule , wo er bei Gelegenheit durchaus einige Tage verbringen wollte. In einer taillierten weinroten Habsburger Uniform mit Ziersäbel, an jedem Arm eine ihn herausfordernde Freundin, vor ihm eine Flasche Tokajer, hatte er 1914 dem Vater dieses Geigers in irgendeinem Café Hungaria zugehört, seine Gedanken hatten sich finster im Kreis gedreht, aus dem sie sich nie hatten lösen können, während Österreich Serbien den Krieg erklärte – Serbien muß sterbien! – und in Brüssel die Mutter seines Sohnes eingeschult wurde …
Als das Lied zu Ende war, bestellte Max eine Flasche Weißwein für das Orchester und fragte Bruno, welche Sprache der Leiter spreche: er wolle ihm
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