Die Entdeckung des Himmels
Saxophonen, Trompeten, Klarinetten, Fagotten und Tuben bliesen: eine laute, langsame, fremdartig-orientalische Melodie, während sich aus dem hinteren Teil des Saales durch den Mittelgang ein Mann mit einem Schaf auf den Weg zur Bühne machte.
»Ein Schaf! Ein Schaf!«
Es war nicht ganz klar, was gemeint war, eine symbolische Opfergabe vielleicht, der Schock jedenfalls war groß, und möglicherweise war Max der einzige, der plötzlich Tränen in den Augen hatte beim Anblick des entsetzt zappelnden Tiers, des tiefen Ernstes und der Innigkeit, mit der es mit dem Bauer verbunden war, der es führte und der vielleicht schon wußte, daß es im nächsten Augenblick an einem Schock sterben würde.
10
Die Zigeuner
Im Gedränge am Ende der Veranstaltung hatte Max Gelegenheit, noch schnell eine Verabredung mit der Rothaarigen aus der dritten Reihe zu treffen, und ging dann zum Künstlerfoyer hinter der Bühne. Auch andere Personen aus dem Publikum hatten sich dahin Zutritt zu verschaffen gewußt; an der Bar stand ein langer, hellblonder junger Mann im Regenmantel und mit Regenschirm: der ›Regenmacher‹ der ehemaligen Provo-Bewegung, der auf magischem Wege für Niederschlag sorgte, wenn das die Polizei behindern konnte; lachend hörte er einem blassen Jungen zu, der einen Verband am Kopf hatte: mit einem Zahnarztbohrer habe er sich ein Loch in den Schädel gemacht, so daß er, wie er in Interviews erklärte, durch diese neue Fontanelle permanent high sei wie ein Baby. Der Schriftsteller notierte etwas, während er noch vor Lachen gluckste. Im Vorbeigehen hörte Max ihn zum Schachmeister sagen, daß sie wohl noch oft an diese Zeit zurückdenken würden; aber der Großmeister beugte sich abwesend über ein Taschenschachspiel, mit dem er vielleicht eine Variante für sein kommendes Match gegen Smyslow in Palma de Mallorca durchspielte.
Ada saß mit Bruno, einigen anderen Musikern, dem Komponisten aus dem Forum, dem Studentenführer Bart Bork und Onno an einem großen, runden Tisch. Er küßte sie und setzte sich neben sie auf denselben Stuhl.
»Gratuliere«, sagte er. »Ihr wart die einzigen, die den Saal wirklich gefesselt haben. Bist du müde?«
»Todmüde. Ich möchte nicht lang bleiben.«
Max grüßte Bruno mit erhobener Hand, der ihm mit unbewegtem Gesicht zunickte. Sie waren einander einige Male begegnet, jedoch ohne daß es je zu einem Gespräch gekommen wäre.
Onno erläuterte dem Komponisten, warum er, als ein zweiter Richard Wagner, in zehn Jahren so rechts sein werde wie ein amerikanischer General und daß er, wie alle Maoisten, auf seinem Sterbebett die heilige Mutter Kirche umarmen werde, das nämlich sei genau das, was er eigentlich suche: den Heiligen Vater.
»Genosse Kaninchen ist für dich nur ein Trittbrett.«
»Genosse Kaninchen?«
»Das ist es, was mao auf chinesisch bedeutet. Aber wenn es dich tröstet, es ist dort auch der Name für ein Sternzeichen.
Ich hingegen«, sagte er, »werde nach der Revolution Präsident der Niederländischen Volksrepublik, und in dieser Eigenschaft werde ich auf Staatsbesuch nach Peking gehen.«
Mit leicht vorgeneigtem Kopf sah Bork ihn aus den Augenwinkeln an.
»Nach der Revolution«, sagte er langsam, »wirst du Strandläufer auf Ameland.«
Schockiert erwiderte Onno seinen Blick. Da saß jemand, dem mit etwas Ernst war. Ihm war, als fühle er die Bemerkung in sich versinken wie einen in die Gracht geworfenen Revolver, der durch das trübe Wasser dem Schlamm entgegentrudelt. Lief es in die Richtung? Angenommen, dieser Bart Bork würde einmal das Sagen haben! Und wenn aus allem nichts würde, was doch am wahrscheinlichsten war, so wie er die Niederlande kannte, was würden Leute wie er dann unternehmen? Wie würden sie das verdauen? Jetzt wurden sie noch getragen von massenhaftem, gutgelauntem Wohlwollen – aber wenn das wegfiel, und sie wären plötzlich allein? Was taten sie in ihrer Verzweiflung? Verwandelten sie sich dann in Terroristen? Er war erschrocken. Vielleicht sollte er tatsächlich in die Politik gehen, um auch dagegen etwas zu tun.
»Onno, kannst du uns mal helfen?«
Ada, Max und Bruno waren aufgestanden und unterhielten sich mit einem der Kubaner. Erleichtert schaltete dieser von seinem mühsamen, amerikanischen Englisch um auf Spanisch, oder besser zu dem schlampigen lateinamerikanischen Dialekt in seiner kubanischen Variante. Er sei sehr beeindruckt von dem Duo und wolle jetzt gerne die Adresse der niederländischen Musikervereinigung haben;
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