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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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zu hören. Er erklärte ihnen, wohin sie gehen mußten, und beim Verabschieden sagte er zu Onno:
    »Grüßen Sie Ihren Vater von mir.«
    Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, sagte Onno leise:
    »Jetzt telefoniert er wieder. Jetzt werden die Instruktionen erteilt.«
    »Welche Instruktionen?«
    »Über das, was wir nicht zu sehen bekommen sollen.«
    »Was kann denn schlimmer sein als das, was wir bereits wissen?«
    »Nichts. Aber es sind natürlich auch noch andere Namen im Spiel, es sind ja nicht alle hingerichtet worden.«
    Den Blicken, die ihnen auf den Gängen begegneten, war zu entnehmen, daß die Nachricht ihrer Anwesenheit sich bereits im Gebäude herumgesprochen hatte. Der Beamte, den der Direktor mit Adriaan angesprochen hatte, legte, als sie eintraten, den Hörer hin: ein untersetzter, leicht gebeugter Mann Mitte Fünfzig mit gerötetem Gesicht und bohrendem Blick. Er stellte sich mit »Oud« vor, bat sie ohne weitere Umschweife, Platz zu nehmen, und begab sich in den Keller, um die Akten zu holen.
    Sie setzten sich nebeneinander an einen langen Tisch, auf dem übersichtlich mehrere Papierstapel lagen. Onno ließ seinen Blick über die Regale voller Akten mit Codenummern schweifen, die bis unter die Stuckdecke reichten, und meinte, daß wahrscheinlich so manch einer gerne einmal ein Streichholz daran halten würde. Max reagierte nicht. Ihm war bewußt, daß er sich einem Endpunkt näherte. Die Papiere würden nur dieses eine Mal auf den Tisch kommen. Schon jetzt wollte er gar nicht mehr so genau wissen, wie sich alles abgespielt hatte, wie es während des Prozesses konstruiert worden war, was die Zeugen ausgesagt und was sein Vater vielleicht noch alles verbrochen hatte; nicht einmal das Urteil wollte er mehr lesen. Es war gekommen, wie es gekommen war. Das einzige, was er sehen wollte, war etwas Konkretes, etwas Unmittelbares, aus dem ersichtlich war, daß es ihn gegeben hatte, den Vater – vielleicht reichte ein Bild.
    Oud kam mit sechs armdicken Ordnern vor der Brust herein, gefolgt von einem jungen Mann mit einem noch höheren Stapel verstaubter Archivmappen und Schachteln, die ihm bis zum Kinn reichten. Nachdem alles vor ihnen ausgebreitet worden war, setzte Oud sich wie ein Marktverkäufer dahinter, machte eine demonstrative Geste und sagte:
    »Womit kann ich dienen?«
    Da lag es – wie schmutziger Schaum in einer ausgelassenen Badewanne.
    ’s Gravenhage
Sondergerichtshof
    las Max auf einem Umschlag. Am liebsten wäre er jetzt aufgestanden und gegangen; weil Onno da war, blieb er sitzen. Dieser hatte sich seinerseits vorgenommen, alle zu überrumpeln und die Sache in die Hand zu nehmen – aber die Menge des Materials lähmte ihn; zudem war ihm der Mann, der hinter den Akten saß, mit seinen bedrohlichen Christophorus-Initialen Alpha und Omega nicht ganz geheuer.
    Als Oud sah, daß Max zögerte, sagte er:
    »Ich kenne mich aus in der Akte, ich war seinerzeit in der Voruntersuchung tätig. Möchten Sie die Stellen sehen, in denen Sie selbst zur Sprache kommen?«
    Max schauderte.
    »Sie haben ihn also gekannt.« Er wollte »meinen Vater« sagen, aber das bekam er nicht über die Lippen.
    »Gekannt … Ich glaube nicht, daß jemand ihn je gekannt hat. Aber ich habe ihn einige Male erlebt, ja.«
    »Was hat er über mich gesagt?«
    »Er selbst? Er hat nie etwas gesagt – nicht über Sie und nicht über jemand oder irgend etwas anderes. Während seiner gesamten Haft hat er den Mund nicht aufgemacht, und während der Verhandlungen auch nicht. Ein Verhör war nicht möglich.«
    »Aber wie ist er dann …«
    Max brauchte seine Frage nicht zu Ende zu führen. Oud nickte, schlug einen Ordner auf, löste die Klammer und legte kurz darauf seine flache Hand auf einen getippten Brief: graue Zeilen mit wenig Zwischenraum, eine Unterschrift, die halb unter dem Handgelenk hervorkam.
    »Hier bittet Ihr Vater einen gewissen General der Wehrmacht, von Schumann, der später in Stalingrad gefallen ist, ob dieser nichts unternehmen kann, um ihn endgültig von seiner jungen Frau zu erlösen. Dieser General war ein persönlicher Freund von ihm, denn er spricht ihn mit du an. Er nennt es übrigens ausdrücklich einen Freundschaftsdienst. «
    Max wandte den Kopf ab. Das durfte er sich nicht ansehen.
    Er hoffte, Oud würde ihn nicht fragen, ob er den Brief lesen wolle, da er ihn dann in Händen halten müßte. Aus dem Augenwinkel sah er ihn blättern.
    »Hier ist der Brief von Schumann an Rauter, den Höheren SS-

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