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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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machte die Schreibtischlampe an und studierte die Feder sorgfältig mit der Lupe – und er sah, was er gehofft hatte: in den Tintenresten schimmerte eine tiefgrüne Glut, wie Algen in einem fauligen Teich. Er schraubte den Deckel wieder zu, aber das Gewinde war überdreht; dennoch spürte er an einem ganz leichten Widerstand das Ende des Gewindes.
    Das Brillenetui war aus billigem, beigefarbenem Pappmaché. Er öffnete es und nahm die Brille heraus. Die Fassung war aus leichtem, durchsichtigem Zelluloid; die fetten, schmutzigen Gläser waren konvex geschliffen. Er wollte sie kurz aufsetzen, aber als er die Bügel auseinanderbog, brach alles in pulverisierte Stücke auseinander, die Gläser fielen heraus, und plötzlich lag nur noch ein bißchen Abfall auf Adas Brief. Mit der linken Hand nahm er den Papierkorb und schob mit dem rechten Unterarm alles hinein.

12
Das Dreieck
    Max hätte es natürlich auch Oud fragen können, denn es stand sicher in den Prozeßakten, aber er wollte dieses Geisterhaus nicht mehr betreten. Beim Justizministerium brachte er mit einiger Mühe in Erfahrung, daß seine Großeltern väterlicherseits in Prag geheiratet hatten und daß sein Vater, mit kalendarischer Disziplin, an seinem Todestag geboren worden war: am 21. Juni 1892, in Bielitz, Österreich-Ungarn. Offenbar hatte niemand daran gedacht, daß er Geburtstag hatte, als er an die Wand gestellt wurde. In Kattowitz hatte er die Grundschule besucht, dann das Gymnasium in Krakau absolviert, bevor er mit neunzehn Jahren in Wien anfing zu studieren. Seit seinem Besuch am Staatlichen Institut für Kriegsdokumentation dachte Max über eine Anregung Onnos nach: den Urlaub in diesem Sommer einmal nicht an einem stumpfsinnigen Strand in Frankreich zu verbringen, sondern in der Gegend, aus der sein Vater stammte – danach konnte er die ganze Sache vielleicht endgültig ad acta legen. Andererseits: was die Vergangenheit anging, so herrschte dort natürlich ein ebenso massives Schweigen wie in Brüssel, wo seine Mutter geboren war. Aber als er zu Hause seinen Atlas aufschlug, machte er eine schockierende Entdeckung. Die drei Orte der Jugend seines Vaters – jetzt im Süden Polens gelegen, in der Nähe der tschechischen Grenze, und Bielsko, Katowice und Krakow genannt – bildeten einwandfrei ein gleichschenkliges Dreieck, das wie eine Pfeilspitze genau nach Osten zeigte.
    Und in der Mitte, genau auf dem Schnittpunkt der drei Winkelhalbierenden, lag Oświeçim: Auschwitz.
    Er fuhr mit dem Zug – wie seine Mutter. Sie hatte die Strecke vermutlich weiter südlich hinter sich gebracht, via Leipzig und Dresden; sein Transitvisum durch die DDR schickte ihn zuerst nach West-Berlin, Bahnhof Zoo, wo er morgens früh ankam und seine Koffer in die Gepäckaufb ewahrung gab. In der Morgensonne schlenderte er über den Kurfürstendamm, kaufte sich an einem Kiosk einen Baedeker und nahm ein Taxi zum verwüsteten Reichstag, wo man emsig an der Restaurierung arbeitete. Das Gebäude war barhäuptig: die große Mittelkuppel – Bismarcks Helm – war verschwunden, und als er sich umdrehte, sah er am anderen Ende der großen Wiese im Tiergarten das neue Kongreßzentrum, das exakt die Form von Hitlers Mütze hatte. Auch das war also ausgeglichen. Er widmete Van der Lubbe einen Gedanken, der hier mit einem Freudenfeuer ihre Zeugung gefeiert hatte, und spazierte entlang der Mauer, die schweigend ihre grellbunten Botschaften hinausschrie, durch den Tiergarten. Neben einem Chaos aus Wurstständen, Andenkenshops und geparkten Autobussen am früheren Potsdamer Platz, kletterte er auf ein Holzgerüst und sah zwischen fotografierenden und sich gegenseitig zur Seite drängenden Touristen auf den maßlosen Kahlschlag auf der anderen Seite hinüber, wo die achteckige Form des Leipziger Platzes dalag wie der Hufabdruck eines riesigen Monsters. Einige hundert Meter weiter war die Stelle zu sehen, an der sich das Monster als letztes das eigene Leben genommen hatte.
    Nachmittags holte er seinen Koffer aus der Aufb ewahrung und fuhr mit der S-Bahn nach Ost-Berlin. Schon dort hatte er das Gefühl, bereits seit Wochen weg von zu Hause zu sein.
    Am Bahnhof Friedrichstraße wurde er von Vopos anderthalb Stunden lang mit absoluter Bürokratenpedanterie von Schalter zu Schalter gescheucht und mit Formularen und noch mehr Formularen traktiert, Reisepaß, Visum, alles Geld auf den Tisch, sofort die Sonnenbrille abnehmen! Er spürte handgreiflich, daß er nicht nur von der einen Hälfte

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