Die Entdeckung des Himmels
und Polizeiführer in Den Haag, ebenfalls per du. Alles Freunde unter sich«, sagte Oud und suchte weiter. »Er hat im Prozeß Ihres Vaters noch als Zeuge ausgesagt und wurde erst drei Jahre später vor Gericht gestellt. Ja, hier haben wir seine Anordnung für den Sicherheitsdienst in Amsterdam, samt Adresse. Und das hier ist die Liste des Amsterdamer SD
dieses Tages, der Name Ihrer Mutter abgehakt, also erledigt.
Was Ihre Großeltern betrifft, die durch Ihre Existenz nicht geschützt waren, hat er einen wesentlich direkteren Weg eingeschlagen. Soll ich das auch heraussuchen?«
Max schluckte und schüttelte den Kopf.
»Aber was ist denn in all den anderen Ordnern?« fragte Onno.
»Da geht es um andere Menschen«, sagte Oud mit unbewegter Miene. »Und darüber hinaus vor allem um Raub und Plünderung.«
Stille. Max sah wieder das Klavier vor sich, wie es aus dem Haus getragen wurde, und den Stapel Kleider im Schlafzimmer seiner Mutter. Um ihm zu helfen, diesen Moment zu überstehen, fragte Onno, ob es eine Erklärung gebe für Delius’ konsequentes Schweigen.
»War das aus Schuldgefühl? Weil er sich in diesem Brief auf fatale Weise um seinen Kopf geredet hatte? Aus einem ähnlichen Grund scheint jetzt auch Ezra Pound nicht mehr zu sprechen.«
»Nach Meinung des Generalstaatsanwaltes«, sagte Oud, »war es ein letzter Versuch, sich vor der Beweislast zu drücken.
Aber dann wurde eines Tages in seiner Zelle etwas Merkwürdiges gefunden.« Er suchte in einer der Archivschachteln und zog einen dicken gelben Dienstumschlag hervor. »Das hier«, sagte er, nahm eine Zigarettenschachtel heraus und reichte sie Max.
Sie war von der Marke Sweet Caporal , vergilbt und leer.
Max nahm sie verwundert in die Hand und drehte sie um. Auf der Rückseite stand etwas in grüner Tinte.
»Es gibt nur mich« , las er. »Was es nicht gibt , das kann nicht sterben.«
»Das klingt wie die Stimme Wittgensteins«, sagte Onno.
» Wovon man nicht sprechen kann , darüber muß man schweigen. Noch so ein frustrierter Österreicher.«
Max hörte es nicht. Nie zuvor hatte er die Handschrift seines Vaters gesehen. Sie war unholländisch, schärfer, eckiger.
Genau diese Schachtel hatte er in seiner Hand gehalten, in seiner Zelle in Scheveningen, und hatte das darauf notiert, auf dem Knie vielleicht, sitzend, auf dem Rand seiner Pritsche.
»Aber es ist nicht von Wittgenstein«, sagte Oud, »es ist von Delius; von Wittgenstein, seinem Generationsgenossen, hat er bestimmt nichts gehört, der kam erst später in Mode. In einem psychiatrischen Attest wurde die Notiz als Beweis aufgeführt, daß der Angeklagte vermindert zurechnungsfähig sei: er verkehre in dem Wahn, nur er selbst existiere tatsächlich und alles andere sei Illusion, Projektion; mit dieser Sichtweise könne er nicht des Mordes schuldig sein, denn es lebe ja sonst niemand; nur er selbst könne sterben. Sogar sein Henker existiere paradoxerweise nicht. Ein derartiger Patient müsse also aus der gerichtlichen Verfolgung entlassen und der Regierung überstellt werden. Aber dem Kläger zufolge war das nichts anderes als ein durchtriebenes Manöver eines intelligenten Verbrechers, um seiner gerechten Strafe zu entkommen. Giltay Veth hingegen, der Pflichtverteidiger, der auch kein Wort aus ihm herausbekommen hatte, vertiefte das Ganze noch. Er führte an, daß sich in Delius’ Zelle ein Buch von Max Stirner befände, eines deutschen Philosophen aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, Propagandist eines extremen, amoralischen Egoismus, dessen Einziger ein Vorläufer von Nietzsches Übermensch sei. Nach Hitlers Untergang sei Delius offenbar noch einen Schritt weitergegangen und in einen wirklichen metaphysischen Solipsismus geraten. Giltay hat zu diesem Thema Rat bei zwei führenden ausländischen Philosophen eingeholt: Russell aus Cambridge und Heidegger aus Freiburg im Breisgau.«
»Heidegger?« sagte Onno überrascht. »Haben Sie das hier?«
Oud schlug einen anderen Ordner auf und legte den Finger auf eine Postkarte.
»Hier, Russell schreibt: Solipsism , although not my cup of tea , is a perfectly legitimate philosophical position. Not taking it serious would imply a defamation of philosophy as such. In my opinion , therefore , your client should be executed without hesitation. Das hat Giltay nie vorgelegt, wie Sie sich vorstellen können; es ist offenbar zufällig zwischen diese Akten geraten.
Er präsentierte nur den Brief von Heidegger. Hier. Der Ausdruck
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