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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Solipsismus leitet sich ab von solus ipse: ›Ich allein‹. Den Anfang dieses seinsvergessenen Gedankens findet man nicht in der Antike , er wäre bei Descartes anzusetzen. Dessen Universal-Zweifel , der an allem zweifelte , nur nicht an sich selbst , führte zu der jedem Schulburschen geläufigen Formel cogito ergo sum. Der solipsistische Standpunkt ergibt sich , wenn das cogito ergo sum zu ergo solus ego sum verschärft wird. Das aber liegt in der Konsequenz des Cartesianismus. Diese zurückzuweisen bedeutet , die gesamte nachcartesianische Philosophie zu verneinen. Mit einem Todesurteil Ihres verehrten Herrn Klienten wäre somit dem Wesen nach die gesamte Philosophie gerichtet.«
    Nun ja. Nach Meinung des Offiziers, sagte Oud, sei Heidegger selbst ein philosophischer Delinquent, und zwar ein Nazi der obersten Kategorie, der indirekt nur sich selbst entlasten wollte, denn auch er ahnte nichts Gutes. In ihrem Urteil vertraten die Richter schließlich den Standpunkt, daß jemand, der seine Frau und seine Schwiegereltern in den Tod treibe, per definitionem nicht normal sei, daß überhaupt kein Mörder normal sei, daß dies aber nicht heißen könne, Mörder dürften sich auf ihre Tat wie auf einen mildernden Umstand berufen, denn das wäre das Ende der Rechtspflege und ein Rückfall der menschlichen Kultur in die Barbarei, also eine Art von Gesellschaft, die soeben auf Kosten von fünfundfünfzig Millionen Toten verhindert worden sei.
    »Sehr richtig«, nickte Onno.
    In den Ecken der Zigarettenschachtel war hier und da noch etwas schwarz gewordener Tabakstaub. Max machte sie zu und sah sie kurz darauf im Umschlag verschwinden.
    »Haben Sie vielleicht auch ein Bild meines Vaters?«
    Oud hob die Augenbrauen.
    »Müßte eigentlich«, sagte er mit Zweifel in der Stimme und begann zu suchen. »Auf jeden Fall in seinem Paß …«
    »Weißt du eigentlich, wo das Grab deines Vaters ist?« fragte Onno mit gespielter Arglosigkeit.
    »Nein«, sagte Max und sah zu Oud.
    Dieser sah kurz auf und machte eine kurze, entschuldigende Geste. Schließlich fand er ein verschwommenes Zeitungsfoto aus dem Gerichtssaal, aus großem Abstand aufgenommen. Max sah eine unkenntliche Gestalt, flankiert von einem Militärpolizisten mit weißer Tresse. Vielleicht derselbe, der ihn, Max, vier Jahre zuvor aus der Schule geholt hatte.

    Onno hatte einen Termin mit einigen Politikern, Max ging sofort nach Hause. Er fühlte sich müde und hatte das Bedürfnis, mit Ada zu reden. Sie wußte von nichts, sie war in dem Jahr geboren, in dem sein Vater erschossen worden war; natürlich hätte bei ihren Eltern eine Erinnerung aufk ommen können beim Namen Delius, der in den Niederlanden selten war, aber es war lange her, und es hatte damals viele Prozesse gegeben, von denen die meisten spektakulärer waren als der seines Vaters. Sie sollte jetzt endlich alles erfahren, zumal er sich an diesem Morgen nicht besonders fein benommen hatte.
    Sofort als er in das Zimmer trat, spürte er, daß etwas nicht stimmte. Ihr Cello, das immer neben dem Flügel stand, war verschwunden. Auf seinem Schreibtisch lag ihr Brief:

    Lieber Max ,
wenn Du nach Hause kommst, bin ich fort. Vielleicht wirst Du es nicht gleich verstehen, aber wenn Du kurz überlegst, kommst Du schon dahinter. Ich habe eine schöne Zeit mit Dir gehabt, für die ich Dir dankbar bin und die ich nie vergesse werde. Du hast mir viel bedeutet und ich Dir vielleicht auch ein wenig. Wenn wir einander noch einmal begegnen, hoffe ich, daß wir das als gute Freunde tun können.
    Für immer Deine Ada.

    Langsam legte er das Blatt zurück auf den Schreibtisch. Der unvermutete Ton des Abschieds, das Endgültige der Sätze drang tief in sein Bewußtsein; zugleich aber wußte er, daß er nichts unternehmen würde, um es ungeschehen zu machen. So war es eben, die Episode war zu Ende. Er setzte sich hin und zog die untere Schublade seines Schreibtisches auf, um das zu tun, was er in Adas Anwesenheit vorgehabt hatte.
    Er konnte nehmen, was er wollte, ohne hinzusehen: die Ordnung, die er um sich herum geschaffen hatte, lieferte ihm ein zusätzliches Jahr seines Lebens, das andere mit Suchen vergeudeten.
    Er legte einen altmodischen Füller und ein Brillenetui vor sich hin. Der Füller war dick, aus geflammtem, dunkelblauem Ebonit, das stumpf und leblos geworden war; die Kupferspange und die Verzierungen waren matt und rostig. Vorsichtig schraubte er ihn auf und betrachtete die goldene Feder, schwarz von uralter Tinte. Er

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