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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Freundlichkeit von jedem, das alles mußte jetzt, nach einer Pause von nicht einmal einer halben Stunde, durch ihre Musik ins Gleichgewicht gebracht werden. Sie spielten Saint-Saëns’ Allegro appasionato , gefolgt von Janáčeks Märchen , und alles ging gut. Die andächtige Stille blieb nach den letzten Tönen noch kurz hängen und machte dann Platz für einen Applaus, der zwar nicht überwältigend war, aber deutlich über der Höflichkeitsgrenze lag.
    Zum Schluß wurden im Gedränge hinter der Bühne Daiquiris serviert. Als Onno Max’ Gesicht sah, zugleich braungebrannt und blaß, sagte er: »Trink auch einen, das wird dir guttun.«
    Max stieß mit Ada und Bruno an und sog behutsam das gestoßene Eis mit dem Rum aus dem flachen Glas. Es schmeckte köstlich. Er trank das Glas aus, hielt es sich kurz an die Stirn und nahm ein zweites. Nach einem weiteren Schluck war er betrunken. Es war, als fiele ein Netz über ihn, ein Schleier, aber zugleich tauchte er auf aus dem Zustand der Benommenheit, der den ganzen Tag über angehalten hatte.
    »Na sdorowje!« rief er, kippte auch dieses Glas in sich hinein und hätte es am liebsten über die Schulter nach hinten geworfen wie der würfelförmige russische General, den er im Tropicana gesehen hatte.
    Von diesem Augenblick an wurden die Ereignisse für ihn rasch immer unübersichtlicher. Die zwei Kubaner, denen sie in Amsterdam begegnet waren, tauchten vor ihm auf und verschwanden wieder, und eine Freundin, mit der er einige Tage zuvor ein Rendezvous gehabt hatte, hielt ihm ihre Wange hin und war im nächsten Augenblick nicht mehr zu sehen.
    Er schlürfte den eiskalten, weißen Schlamm und spürte, wie er kühlend durch die Brust hinabglitt. Zufrieden ließ er den Blick über die Menge gleiten. Plötzlich wurden Anstalten zum Gehen gemacht. Es war ihm offenbar noch nicht anzusehen, daß sich bei ihm etwas verändert hatte; Onno sagte, Bruno habe etwas organisiert, er solle sein Glas jetzt wegstellen, sie führen zu einer Santeria. Einer Santeria? Also gut, zu einer Santeria. Wenn es da bloß Daiquiri gab.
    Gab es aber nicht. Mit rumpelnden Autos fuhren sie in eine ärmliche Straße in einem Außenviertel, Max auf der Rückbank eingeklemmt zwischen drei oder vier Leuten, die er nicht kannte. Vor einem Holzhaus mit offener Eingangstür zwischen abgeblätterten Säulen stiegen sie aus. In den kleinen Zimmern war es schon so voll, daß sie kaum noch hineinpaßten. Max stellte sich auf Zehenspitzen: etwas außergewöhnlich Geheimnisvolles war im Gange.
    Aus dem Hinterzimmer kam ein aufpeitschendes Trommeln, jemand sang; auf einem Holzstuhl saß, flankiert von Kerzen, ein ausgezehrter Schwarzer in einem hellblauen, geblümten Kittel und schüttelte sich, als würden Stromstöße durch seinen Körper gejagt, zwei schwarze Frauen versuchten ihn im Zaum zu halten. Wie in Trance stieß er Wörter und Töne aus, die nach Onnos Meinung nichts mit Spanisch zu tun hatten, sondern eher mit Nigerianisch, Yoruba , oder was auch immer. Offenbar hatte ein afrikanischer Geist von ihm Besitz ergriffen, andererseits konnte dieser Geist aber auch nicht nur heidnisch sein, denn über dem Kopf des Mannes stand auf einem Sockel ein kitschiges Marienbildnis, und darüber wiederum hing ein Bild von Fidel Castro. Aber vielleicht war es das alles zugleich, unter Vernachlässigung des Gesetzes des ausgeschlossenen Dritten und zur ewigen Beschämung derjenigen, die glaubten, etwas davon zu verstehen. Auf einmal flogen Daunen und Hühnerfedern durch die Luft, und die Trommler und Sängerinnen gerieten immer mehr in einen Zustand unbändiger Ekstase, die sich bald auch auf andere schwarze Männer und Frauen im Publikum übertrug, so daß schnell Platz gemacht werden mußte, um den herumschleudernden Armen und Beinen auszuweichen. Max wurde in eine Ecke gedrückt, und mit einem Blick, der zu schwer vom Rum war, als daß er ihn noch hätte lenken können, begegnete er neben sich plötzlich den Augen des niederländischen Schriftstellers, der in Amsterdam im Forum gewesen war.
    »So sieht man sich wieder«, sagte Max. Er versuchte sich auf ihn zu konzentrieren, aber er stand zu nah, und weil Max zuviel getrunken hatte, hatte er die Stirn zu fragen: »Wie ist es in Gottes Namen bloß möglich, daß jemand einen ganzen Roman zusammenphantasieren kann?«
    »Ich phantasiere nie«, sagten plötzlich zwei Münder. »Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an Dinge, die nie geschehen sind. Genau wie du, wenn du meinen

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