Die Entdeckung des Himmels
Milizuniform und putzte seinen Revolver.
Aber schon nach zwei Tagen begann Max sich zu fragen, was er hier eigentlich tat. Das stundenlange Sitzen in einem Saal mit künstlichem Licht, und das bei diesem herrlichen Wetter, die Übersetzungen endloser Referate und das ununterbrochene Stimmengewirr der Dolmetscher in ihren Kabinen, während er lieber draußen durch die Stadt gegangen wäre – der ganze Kongreß hing ihm bald zum Halse heraus.
Und das sollte noch fünf Tage so weitergehen? Morgens fuhr er als erstes im Bademantel mit dem Fahrstuhl zum großen Schwimmbad im ersten Stock, wo schon zu dieser frühen Stunde ein Band abgespielt wurde, das seit den fünfziger Jahren nicht mehr ausgetauscht worden war: Gonna take a sentimental journey , don’t fence me in. Bis zum Lunch schwänzte er und blieb in der Sonne liegen, und während der Nachmittagssitzung verkürzte er sich die Zeit mit der Lektüre von Novalis’
Heinrich von Ofterdingen , die er im letzten Augenblick in seinen Koffer gepackt hatte – aber dafür war er doch nicht nach Kuba gereist! Auch die ideologischen und taktischen Wortgefechte interessierten ihn nicht. Zudem kamen die wirklich interessanten Dinge natürlich nicht in den Arbeitsgruppen zur Sprache, sondern wurden auf den Hotelzimmern besprochen, hinter verschlossenen Türen, oder im Gebäude des Zentralkomitees.
Vor allem aber war er schockiert über die palästinensische Delegation, die den Staat Israel aus der Welt schaffen wollte und dafür von allen Beifall bekam. Das war ihm neu. Israel!
Kind von und Gegenstück zu Auschwitz! Israel war weiß Gott keine Filiale des Himmels, aber mußte es deshalb gleich in eine zweite Filiale der Hölle verwandelt werden? Konnte es sein, daß die äußerste Linke und die äußerste Rechte miteinander paktierten, wenn es gegen die Juden ging? Er erinnerte sich noch, daß während des Krieges ein palästinensischer Groß-Mufti von Jerusalem mit einer weißen Mütze auf dem Kopf Hitler einen Besuch abgestattet hatte, um die Vernichtung der Juden in Palästina zu besprechen, General Rommel war mit seinem Afrika-Korps bereits unterwegs. War »Antizionismus« der neueste Euphemismus für Antisemitismus, wie »Endlösung« für Ausrottung? Streckte das Höllische seine Tentakel jetzt auch schon bis nach Kuba aus? Wenn Israel seine Mutter war, dann durfte es doch, bitte schön, nicht so sein, daß diese phantastische Insel zur Welt seines Vaters gehörte!
An dieses Dilemma wollte er jetzt nicht denken, und er sprach auch nicht darüber. Was ihn zum Bleiben bewegte, war Onno, der sagte, daß er viel lerne, obwohl er sich – in seiner Eigenschaft als erasmianischer Parlamentsdemokrat, der er war – mit der Radikalität der ganzen Veranstaltung nicht recht identifizieren könne. Und außerdem waren da natürlich noch die angenehmen Seiten: das Auto mit Fahrer, die Busreisen in das Landesinnere, die Theateraufführungen, spät am Abend das Abendessen auf einem rustikalen Platz in der Altstadt an Reihen gedeckter Tische von jeweils zwanzig Metern Länge, mit Musik und Reden, oder der Besuch einer Show im La Tropicana, einem riesigen Nachtclub unter freiem Himmel, wo weiße Konzertflügel aus dem Boden aufstiegen, auf denen von schwarzen Männern in weißen Smokings Guantanamera gespielt wurde, und fünfzig Mädchen mit Straußenfedern auf dem Kopf ihre Beine in die Luft warfen und zum Schluß die Internationale sangen, während in der Grünanlage ringsum Hunderte von Soldaten Wache hielten, da ständig mit Attentaten von Infiltranten aus Miami gerechnet werden mußte.
Als am Ende der Woche der Augenblick für Adas Auftritt gekommen war, war Max schlecht in Form. Den ganzen Tag schon hatte er sich fiebrig gefühlt; am liebsten hätte er sich hingelegt, aber das war für ihn ausgeschlossen, obwohl ihm das keiner verübelt hätte. Onno war bereits mit Ada vorausgegangen, und nur um Guerra wieder zu Kräften kommen zu lassen, war er in den Speisesaal gegangen, wo er sich neben dem kräftig zulangenden Guerra auf einen Obstsalat beschränkte. Da kein Auto verfügbar war, nahm er den qualmenden, ruckelnden Bus in die Altstadt und ließ sich von seinen fröhlichen Mitreisenden beäugen.
Der kleine Saal war heiß und überfüllt; das Publikum saß bis auf die Gänge. Auch einige Komponisten waren gekommen. Ada war nervös. All ihre Proben, die kostenlose Reise, das Hotel, die Mahlzeiten, der kostenlose Eintritt zu Konzerten und Ballettaufführungen, die
Weitere Kostenlose Bücher