Die Entdeckung des Lichts
wie. So ernst wie die Erwachsenen ihre nahm Albert seine Spielzeuge nie, aber alles, wusste er, hing jetzt davon ab, wie gut die Anlage heute Abend lief, wie das Wetter war und dass nirgends Funken sprühten.
Das Wetter war schon mal gut.
Seine Mutter, das wusste er auch, betete.
»Albert«, sagte sie, als sie mit einem neuen Paar Wollsocken ankam. An ihrer Stimme hörte man, dass sie nicht annahm, sich durchsetzen zu können.
Durch eine entschiedene, nach hinten in ihre Richtung gestreckte linke Hand hieß Albert sie ruhig zu sein, während er mit der rechten das dritte Stockwerk des Kartenhauses vollendete, dann das erste Kartenpaar des vierten aufstellte, zur Verwunderung der Mutter in der Mitte des Baus. Gebannt sah sie ihm zu, eine Hand dabei in einer Wollsocke.
Hermann zog erneut die Uhr aus der Westentasche, als Jakob das Fenster öffnete, um »Höchtl!« zu rufen, dessen Ohren vier, höchstens viereinhalb Meter entfernt waren. Selbst wenn es sechs Meter gewesen sein sollten, mussten sie deshalb nach weniger als zwei Hundertstelsekunden vom Schall erreicht worden sein, dachte Albert.
Aber Höchtl regte sich nicht. Er regte sich weder, bevor das Kartenhaus vom viel langsameren Luftzug berührt zusammenfiel, noch nachdem Pauline jetzt viel fester ihren Schwager ermahnte, als sie es zuvor mit Albert getan hatte: »Jakob!«
Der starrte unverwandt auf Höchtl, wünschte diese primitive Art, miteinander in Kontakt zu treten, zum Teufel oder gleich nach Frankreich und sagte laut zu sich selbst: »Stur wie Holz!«
»Wer denn?«, fragte Hermann ungehalten.
»Herr Höchtl«, wiederholte Jakob jetzt in ganz normaler Zimmerlautstärke und mit einem Minimum an Freundlichkeit, das schon das Maximum seiner erreichbaren Selbstdisziplin erforderte. Seine rechte Hand hielt weiter den Fensterflügel fest.
Höchtl sah gemächlich auf und fragte mit einer nicht unpassenden Kopfbewegung, was es gebe.
»Seien Sie doch bitte so gut und bürsten den Gäulen noch schnell über die Flanken!«
Höchtl nahm den Blick vom Fabrikanten und sah auf den Pferdearsch, der ihm am nächsten war.
Er dachte: »Noch schnell!«
In einem nur in der Imagination möglichen Tempo rekapitulierte er, wie er bei Krauss das Wettdrehen gewonnen hatte und Geselle geworden war, wie er vorher monatelang im Dreck der Schmirgelbank ausgehalten hatte und wie ihn noch früher der Graf Holstein nicht als Hofstaller genommen hatte wegen der roten Haare, denen »seine Sommersprossen«, so der Graf in merkwürdiger Verdrehung der Tatsachen, »noch die Krone aufsetzten«.
In weniger als einem Augenaufschlag dachte Höchtl an den harten Winter neunundsiebzig. Er dachte an seine Scharlacherkrankung und daran, dass Unkraut nicht vergeht. Er dachte an die Zeit als Ministrant, in der er für sechs Pfennige um vier Uhr aufgestanden war, und er dachte an die ungezählten Spanischen Rohre in den Händen seiner Lehrer, von denen niemand wusste, wieso die Spanier an ihnen schuld sein sollten.
Er dachte an seinen Vater, der für seinen Humor bekannt war und der im Jahr achtzig bei Regen auf einen Zug springen wollte wie immer. An den Fuß seines Vaters, der vom nassen Trittbrett abrutschte wie noch nie, bevor seine Hand den Halt am nassen Haltegriff verlor und sein Kopf unter das nächste rollende Rad geriet.
»Noch schnell«, dachte Höchtl, den kondensierenden Atem des Pferdes inhalierend, mit den Augen dem Lauf der braunen Haare im Fell der Flanke folgend, als wäre es der Lauf seines Schicksals. Er hatte seine Mutter vor Augen, die zwei Jahre nach dem Unfall des humorvollen Vaters mit zweiundvierzig »ihrem Siechtum erlegen« war, wie alle es nannten.
Er beschloss, morgen seine Schwester bei den Pflegeeltern zu besuchen. Sie war das einzige von elf Geschwistern, das noch lebte, denn alle anderen waren »gekommen« und ohne genug Zeit, einen eigenen Willen zu entwickeln, »wieder gegangen«.
Dem Fenster mit Jakob Einstein drehte er jetzt vollends den Rücken zu.
Dass Jakob lächelte, bemerkte niemand. Er schloss den Fensterflügel und sagte wie im Selbstgespräch, die Gäule sähen aus wie vom Sendlinger Bauernhof.
In den verstreuten Spielkarten, die eben noch Teile eines Kunstwerkes gewesen waren, las Pauline Einstein ihre Unschuld und lebenslange Zurücksetzung.
Albert stand ruhig auf und sagte mehr, als dass er fragte: »Gehn wir?«
Er war zu Jakob ans Fenster getreten und beobachtete von der Seite seinen Onkel, der durch das wellige Fensterglas sah, wie
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