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Die Entdeckung des Lichts

Die Entdeckung des Lichts

Titel: Die Entdeckung des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Bönt
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Unendliche, das Unteilbare, das ungleich zu Messende in der Geometrie, kurz: um die Unvollkommenheit der menschlichen Kenntnisse. Und um den Umgang damit.
    Faraday hatte es gelesen, langsam, dann schneller noch einmal, mit den Fingern die nächste Seite an der Ecke rechts oben immer schon haltend. Wenn er so hinten im Laden saß und sich konzentrierte und alles um sich herum vergaß.
    Liebevoll drehte er das Buch jetzt, um nach dem oberen Schnitt den unteren zu bestäuben. Er stieß die Borsten in die Schale mit Pigment, hauptsächlich Quecksilber- und Cadmiumsalze. Mit Farbe unter manchem Fingernagel ging er vor dem Tisch in die Knie, strich mit dem Daumen über die Borsten und sprühte so Pigmentstaub auf das über die Tischkante ragende Buch.
    »Nicht zu viel«, sagte Riebau, der sich von seinem Kunden verabschiedet hatte, wieder hereingekommen war und seinem Lehrling über die Schulter sah. Faraday nahm das Buch und stieß den Lederrand senkrecht auf dem Tisch auf, damit der überschüssige Staub abfiel. Er wiederholte das mit dem auf dem Kopf stehenden Buch und mit der Längsseite. Als er mit einem Stück Papier aus dem Verschnitt den Pigmentstaub vom Tisch wieder in die Schale schob, kam der neue Laufbursche in den Laden gestürmt. Er hielt eine Zeitung in der Hand und hatte die Augen weit aufgerissen.
    »Nelson«, sagte er atemlos, blieb stehen und hielt die London Gazette hoch.
    Alle starrten ihn an.
    »Nelson«, sagte er noch mal stotternd, mit großen Augen, und alle starrten ihn weiter an, denn er hatte die Nachricht, auf die alle warteten. Seit Nelson die kombinierte Flotte der Spanier und Franzosen über den Atlantik und zurück gejagt hatte, warteten London und der Rest des Landes auf Neuigkeiten. Die kontinentale Presse schrieb: Er sei ihr in einem Abstand von erst vier, dann immer noch zwei Wochen hinterhergesegelt, nachdem sie ihm aus dem belagerten Hafen von Toulon entwischt war – bei Nebel! Eine Demütigung war das gewesen, aber nicht nur eine Demütigung. Buonaparte wollte Nelson abhängen und die französische Flotte in den Kanal fahren lassen.
    »Zweiundsiebzig Stunden Kontrolle« des Seeweges seiner Grande Armée würden zum Übersetzen seiner einhundertsechzigtausend Mann reichen, von denen kaum einer lesen und schreiben konnte und die stattdessen den Tod im Feuer des Gegners um der Auszahlung ihrer Familien willen in Kauf nahmen. Zur Ehre Frankreichs! Nur die hoffnungsvolleren jungen Männer der Landbevölkerung hackten, so schrieben die Zeitungen, sich die schwache Hand ab, um nicht eingezogen zu werden. Für die anderen waren an der Kanalküste Tausende Prähme gebaut worden, flache Boote, die große Menschenmengen schnell und mit verkraftbaren Verlusten übersetzen konnten. Zu Land war der Kaiser unschlagbar.
    Der Kanal aber war auch ohne Nelson zu dicht mit englischen Schiffen bewacht. Villeneuve, der französische Oberkommandierende, ließ seine gut dreißig von Westen heransegelnden Schiffe abdrehen. Er hatte Angst. Gegen den kaiserlichen Befehl ließ er
in Cadiz ankern, und Nelsons Flotte wartete hinterm Horizont. Villeneuve bewegte sich in seiner Falle nicht. Buonaparte tobte.
    Der seit einem Gefecht vor Teneriffa einarmige und einäugige Nelson war deshalb zu seiner Geliebten nach London gekommen, hatte sich öffentlich bejubeln lassen, war zwei Wochen später wieder auf dem Weg nach Cadiz gewesen, im Gepäck nichts als die Erwartung seines ganzen Landes, den Gegner endlich zu zerstören.
    »Östlich von Frankreich formiert sich der Rest von Europa in der Hoffnung, England wird geschlagen«, meinte Riebau einmal zu Faraday, mit dem er gewöhnlich nicht über Politik sprach, was seine Anspannung verriet, »und Frankreich wird dann, weil es seine Truppen hier hat, seitlich verwundbar.« Er glaube zwar nicht, dass Buonaparte so dumm sei: »Aber auszuschließen ist es nicht.« Und als Buonaparte seine so oder so dem Tod geweihten Soldaten schnaubend aus Boulogne abzog, hielten das in London alle für einen Trick: Die Angst wuchs noch.
    Österreich, hatte Faraday noch am 22. Oktober gelesen, verfügte über sechsunddreißigtausend neue Rekruten. Böhmen und Mähren hatte sechzigtausend eingezogen, in Ungarn waren zweiundvierzigtausend Mann frisch und zusätzlich unter Waffen.
    Aber nur eine Woche später hatte die Times geschrieben, Österreich sei schon am 19. vernichtet worden, in der kleinen Stadt Ulm. Siebzig- bis achtzigtausend Männer gefallen. Angeblich. Keiner wisse Genaues.

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