Die entführte Braut: Wenn die Braut sich traut (German Edition)
Werbekalender von einer Tankstelle, das Foto zeigte den Mount Rainier. Das Bild war schon halb verblasst, und der Kalender war seit dem Februar nicht mehr abgerissen worden. In der Tür stand eine kleine, zierliche ältere Frau, in deren Lächeln eher ein Willkommen als Überraschung zu lesen war.
„Hallo, Gram.“ Gary stellte seine Stiefel auf eine Gummimatte neben der Tür. „Ich hab’ sie gefunden.“
„Das ist gut. Das Abendessen ist gleich fertig.“
Gary verließ den Raum, und die Frau neigte grüßend den Kopf vor Isabel. „Ich bin Juanita Sohappy.“
„Und ich bin Isabel Wharton. Ich nehme an, Dan hat Ihnen von mir erzählt.“
Juanita nickte, hob den Deckel eines Korbes hoch und entnahm ihm eine Wolldecke. „Hier. Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, und wärmen Sie sich erst einmal. Setzen Sie sich an den Tisch. Ich bringe Ihnen gleich etwas Stew.“
„Ich habe keinen Hunger, danke schön.“ Isabel zog sich die weiche Decke um die Schultern.
Juanitas Augen blitzten warnend auf. „Jeder, der in mein Haus kommt, isst hier auch.“
Isabel setzte sich gehorsam an den Tisch und freute sich im Stillen über Juanitas etwas aggressive Gastfreundschaft. Die Einrichtung der Küche zeugte von Armut, aber auch von dem rührenden Stolz dieser Leute auf die wenigen Kostbarkeiten, die sie besaßen. Auf der Anrichte waren vier schöne Zierteller aufgestellt, davor stand eine Sammlung von Schnapsgläsern, der Aufschrift nach Andenken an die Weltausstellung von 1962. Und Juanitas Schürze, aus dem Stoff eines Mehlsacks gefertigt, war an den Rändern mit kunstvollen, hübschen Stickereien verziert.
Isabel hatte plötzlich einen Kloß in ihrer Kehle, und die Wahrheit dämmerte in ihr.
Sie hatte sich ein Leben auf Bainbridge Island aufgebaut. Aber ihre Seele hatte sie an einem Ort wie diesem zurückgelassen.
4. KAPITEL
Petunia drehte ihren Kopf zur Seite und warf dem Reiter auf ihrem Rücken ein vorwurfsvollen Blick zu. Sie war Dans bestes Pferd, aber er wusste auch, dass die Stute es hasste, nass zu werden und dass sie nicht gern im Finstern draußen war.
Dan sprach beruhigend auf das Tier ein und lenkte es den Abhang hinab. Zu Pferde würde er Isabel am ehesten ausfindig machen. Im Sattel hatte er den besten Überblick, jedenfalls, bis es dunkel wurde. Außerdem hätte er auf dem Motorrad etwaige Rufe Isabels wegen des Motorlärms nicht hören können.
Der Regen rauschte durch den Wald, tropfte von den Bäumen und Farngewächsen und klopfte dumpf auf die Kapuze von Dans Poncho. Jetzt wollte er einmal bei Juanita und Theo nachsehen, und wenn Isabel nicht bei den Sohappys war, würde er den Rettungsnotdienst der Forstverwaltung über Sprechfunk alarmieren.
Einstweilen rief und schrie er Isabels Namen, bis ihm die Kehle wehtat.
Verdammt, wo steckte sie nur?
Auf dem Weg nach Norden zu den Sohappys fiel ihm ein, dass er ja im Grunde schon seit fünf Jahren auf der Suche nach Isabel Wharton war. Doch erst jetzt wusste er, was er zu tun hatte, um Isabel zurückzugewinnen – vorausgesetzt, sie blieb lange genug bei ihm und hörte ihm zu. Wenn er nur diese Mauer durchdringen könnte, die sie um sich herum errichtet hatte! Und wenn er nur all die Worte finden könnte, die er schon damals vor Jahren hätte, zu ihr sagen sollen.
Er dachte daran zurück, als er sie zum allerersten Mal gesehen hatte. Die Szene hatte sich seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt. Er war damals dreiundzwanzig, nassforsch und von dem Drang besessen, aus allem auszubrechen und die Leute zu schockieren. Auch sein Äußeres war darauf gestylt: die Pferdeschwanzfrisur, die Lederkleidung, der Ohrring und sein Benehmen. Alles zielte darauf ab, den Leuten Angst vor ihm zu machen. Es war ihm zur zweiten Natur geworden.
Ihm hatte das gefallen.
Als Isabel in sein Leben kam, stand er auf der Bühne eines Nachtclubs, spielte Gitarre und sang für ein Publikum, das genau so finster und bedrohlich aussah wie er selbst. Seine Musik hatte ihm bereits Bewunderung und Lob von den örtlichen Kritikern eingebracht, was ihm im Grunde gleichgültig war. Wenn er auftrat, versank er gleichsam in dem scharfen, rauen Rhythmus, den er über sich hinwegrauschen ließ wie die ständige Brandung der See. Durch seine Musik brachte er die Wildheit und das Mysterium aus seinem tiefsten Innern hervor. Seine unablässige Hingabe und seine Präzision beim Musizieren waren zwar einträglich, führten jedoch letztendlich zur Selbstzerstörung.
Trotz der ihn
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