Die Entfuehrten
keine Anstalten, den Brief zu öffnen. Er fasste ihn nicht einmal an. Stattdessen beugte er sich über sein Sozialkundebuch, als wäre er der fleißigste Schüler der Welt:
Sieh mal, Mom! Ich bin keineswegs darauf aus, von der Schule zu fliegen!
Doch er spürte die Blicke seiner Mutter und seiner Schwester. Jonas seufzte.
»Ich sehe ihn mir später an, ja? Erst muss ich mit den Hausaufgaben fertig werden. Wir schreiben morgen eine Arbeit und ich habe noch nicht mal das Übungsblatt durch«, erklärte er ihnen.
»Oh, schon gut. Komm, Katherine, man wirft uns hinaus«, sagte Mom. »Sag mir Bescheid, wenn ich dich später abfragen soll, Jonas.«
Er wartete, bis die beiden gegangen waren und die Tür hinter sich zugemacht hatten. Dann nahm er denUmschlag, setzte sich vor der Tür auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an, damit er wenigstens gewarnt war, wenn jemand ins Zimmer kam. Vorsichtig schob er den Finger unter die Umschlagklappe und öffnete sie.
Noch ehe er das Blatt herauszog, sah er, dass es größtenteils leer war. Er hatte Mühe beim Auseinanderfalten, weil die Kanten ein wenig zusammenklebten. Dann hatte er es geschafft. Er legte das Papier flach auf den Boden, um sämtliche Worte auf einmal überblicken zu können.
Diesmal waren es acht:
VORSICHT! SIE KOMMEN ZURÜCK, UM DICH ZU HOLEN.
Sieben
»Hast du auch niemandem davon erzählt?«, fragte Chip.
»Ich habe doch gerade gesagt, dass ich das nicht getan habe, oder?«, antwortete Jonas.
»Nein, ich meine, einem Erwachsenen. Deinen Eltern zum Beispiel.«
Verdrossen zuckte Jonas mit den Achseln. Sie standen an der Bushaltestelle, allerdings ein wenig abseits von den anderen, außerhalb des Lichtscheins der Straßenlaterne. Es war der nächste Morgen und Jonas hatte Chip gerade leise erzählt, was in seinem neuesten Brief gestanden hatte.
»Was soll ich ihnen denn sagen?«, fragte er, verzog das Gesicht wie ein ängstliches kleines Kind und gab mit piepsiger Stimme von sich: »Mama, Papa, der Zettel hier hat mir Angst gemacht.« Dann sagte er in normalem Tonfall: »Katherine meint, sie würden sowieso schon durchdrehen, nur weil ich gestern Abend ein paar Fragen gestellt habe.«
Chip wandte die Augen ab und Jonas folgte seinemBlick. Die anderen waren in der Dunkelheit kaum mehr als kunterbunte Flecken, trotzdem konnte Jonas mitten in einer Traube anderer Kinder Katherines leuchtend orangefarbene Jacke erkennen. Es hörte sich an, als wetteifere sie mit ihren Freundinnen Emma und Rachel darum, wer am lautesten kreischen konnte.
»Vielleicht hat Katherine den Brief geschickt«, sagte Chip. »Ich habe keinen bekommen. Vielleicht will sie dir nur einen Streich spielen. Sie wollte ja auch den Brief am Samstag umschreiben, damit er witziger wird.«
Jonas dachte daran, wie ernst Katherine am vergangenen Abend ausgesehen hatte, als sie zu ihm gesagt hatte: »Tu das nicht«; wie verzweifelt sie sich zu wünschen schien, dass er und seine Eltern sich einfach wieder normal verhielten.
»Nein«, sagte er kurz angebunden. »Katherine ist es nicht.«
»Na, dann . . . was stand noch mal genau in dem Brief?«, fragte Chip.
» Vorsicht! Sie kommen zurück, um Dich zu holen«,
zitierte Jonas tonlos. Er musste nicht lange überlegen. Er hatte die Worte am Vorabend so lange angestarrt, dass sie sich ihm förmlich in die Netzhaut eingebrannt hatten.
»›Sie kommen zurück, um Dich zu holen‹, hm? Vielleicht hat es gar nichts mit deiner, äh, Adoption zu tun«, rätselte Chip. Jonas fiel auf, dass es ihm immer noch schwerfiel, das Wort auszusprechen. »Vielleichtist es ein Racheakt. Hast du in letzter Zeit irgendjemanden auf die Palme gebracht?«
Ja,
dich
, dachte Jonas, ohne es laut auszusprechen. Er konnte Chip ebenso wenig verdächtigen wie Katherine.
»Es ist bestimmt nur ein neuer Streich«, sagte Jonas, obwohl er sich keineswegs sicher war. Eigentlich war er sogar ziemlich sicher, dass es keiner war.
In diesem Moment tauchte der Schulbus aus der frühmorgendlichen Dunkelheit auf, und er und Chip mischten sich unter die schreienden, kreischenden Schüler, die davon schwatzten, dass Spencer Patton heute seinen iPod in die Mathestunde schmuggeln wollte, dass Kelly Jefferson gerade mit Jordan Cowan Schluss gemacht hatte, und »Hast du schon gehört, gestern ist in der Schulcafeteria sechs Kindern von der Pizza schlecht geworden! Glaubt ihr, dass sie jetzt das Küchenpersonal feuern?« Jonas hoffte nur, dass man ihm nicht ansah, dass er sich fühlte,
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