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Die Entfuehrten

Titel: Die Entfuehrten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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als befinde er sich im Innern einer Luftblase. Selbst als er in den Bus stieg, den vollgestopften Gang entlangging und sich auf den erstbesten freien Platz fallen ließ, hatte er das Gefühl, sich in einer ganz anderen Dimension zu befinden als die Kinder, die sich für iPods und Mathestunden, Trennungen und Mensaessen interessierten.
    Zwei blöde Briefe – dreizehn blöde Wörter – und schon drehe ich durch? Ich bin auch nicht besser als Mom und Dad!
    In der ersten Stunde hatten sie Stoffwiederholung und er zwang sich, seine Sozialkundeunterlagen noch einmal durchzugehen. Er konzentrierte sich dermaßen, dass der Test in der zweiten Stunde ein Kinderspiel war. Sehr erleichtert setzte er die bedeutungslosen Begriffe ein:
Homo erectus, Homo habilis, Homo sapiens, Neandertaler
. Wenigstens das waren Fragen, auf die er eine Antwort hatte. Er gab die Arbeit ab mit dem Gefühl, alles richtig beantwortet zu haben, sogar die Zusatzfragen.
    Siehst du, Katherine, ich rufe nicht um Hilfe, indem ich von der Schule fliege!, dachte er. Das wird die beste Note des Jahres!
    Einige seiner Mitschüler schienen weniger zufrieden zu sein.
    »Kommen Sie schon, Mr Vincent«, sagte Spencer Patton. »Sie müssen doch zugeben, dass das langweiliges Zeug ist. Wozu brauchen wir diesen Geschichtskram?«
    »Damit ihr wisst, wo ihr herkommt«, sagte Mr Vincent.
    Schön wär’s, dachte Jonas.
    »Mir ist noch was eingefallen. Außerdem wird es nützlich sein, wenn irgendwann jemand eine Zeitmaschine erfindet«, witzelte Jeremy Evers. »Wenn man damit in die Vergangenheit reist, kann man die Leute besser auseinanderhalten und weiß, mit wem man Neandertalisch reden muss und wer einfach nur Höhlenkauderwelsch von sich gibt.«
    »Sehr witzig, Jeremy«, sagte Mr Vincent, der überhaupt nicht amüsiert klang. »Bleiben wir lieber auf dem Boden der Realität, ja?«
    Der Boden der Realität
– Jonas gefiel dieser Ausdruck. Er stellte sich vor, wie er Mr Vincent von den Briefen erzählte und dieser anschließend nur abfällig den Kopf schüttelte und sagte: »Also wirklich, Jonas, bleib bitte auf dem Boden der Realität.« Die Realität sollte aus Sozialkundearbeiten und Mensaessen bestehen und nicht aus seltsamen Briefen und der Angst, dass jemand kommen und ihn wegholen könnte; der Sorge, dass es ein Riesenfehler war, seinen Eltern nichts von den Briefen zu erzählen, damit sie zur Polizei gingen und davon Fingerabdrücke nehmen ließen.
    Was bilde ich mir eigentlich ein? Mom und Dad würden sich kaputtlachen, dass ich solch ein Spektakel veranstalte, damit sie wegen eines Schülerstreichs die Polizei einschalten!
    Mr Vincent rief Jonas auf, um eine Frage zu beantworten, doch dieser wusste nicht einmal, was Mr Vincent gefragt hatte.
    Der Rest des Tages verlief genauso. In Naturwissenschaft ließ Jonas ein Reagenzglas mit Flüssigkeit fallen, die sich als stark säurehaltig erwies. (Wie sich herausstellte, war es nur Zitronensaft, aber seine Laborpartnerin war trotzdem sauer, dass er ihr Benetton-Top vollgespritzt hatte.) Im Sportunterricht bekam er einen Volleyball an den Kopf. Bei der Probe des Schulorchestersverzählte er sich bei den Pausen und setzte zum falschen Zeitpunkt ein – die einzige Trompete in einem Abschnitt, der nur für die Flöten vorgesehen war. Es war, als habe die Sozialkundearbeit sein gesamtes Konzentrationsvermögen aufgebraucht. Jonas war froh, als die Schule endlich zu Ende war und er nach Hause fahren und sich vor den Fernseher setzen konnte, wo niemand merken würde, dass er nicht bei der Sache war.
    Doch als er an diesem Nachmittag als Letzter aus dem Schulbus stieg, hörte er Chip angespannt sagen: »Komm mit.«
    »Was?«, sagte Jonas benommen. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass Chip direkt vor ihm war. Hatte er sich unabsichtlich bereit erklärt, weitere Safes für ihn zu öffnen oder noch mehr Dokumente durchzusehen? Hatte er seit ihrer Unterhaltung am frühen Morgen an der Bushaltestelle überhaupt noch einmal mit ihm gesprochen?
    »Nur bis zu meinem Briefkasten«, sagte Chip.
    Jonas blieb mitten auf der Straße stehen und starrte ihn verständnislos an.
    »Du weißt doch, dass man Briefe von einem Ort aus gleichzeitig losschicken kann, und sie kommen trotzdem an unterschiedlichen Tagen an ihrem Bestimmungsort an«, erklärte Chip. »Selbst wenn sie in der gleichen Straße in zwei verschiedenen Briefkästen landen sollen.«
    Jonas fing an zu begreifen.
    »Du hast Angst, dass du den Brief heute bekommst«, sagte

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