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Die Entfuehrten

Titel: Die Entfuehrten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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er. »Den gleichen, den ich gestern bekommen habe.«
    » Angst
nicht«, beeilte sich Chip zu erklären. »Ich meine, wenn du viel zu tun hast, kann ich die Post auch allein aus dem Briefkasten holen. Es ist nur so, dass du daran gewöhnt bist, adoptiert zu sein, und du nimmst vieles leichter. Aber für mich ist das alles neu, verstehst du?«
    Aber sicher doch, dachte Jonas. Der heutige Tag zum Beispiel war das reinste Kinderspiel. Trotzdem machte er schweigend kehrt und ging mit Chip zum Briefkasten am Ende der Auffahrt zu dessen Elternhaus.
    Der Briefkasten der Winstons gehörte zu den schickeren Modellen in der Gegend. Statt auf einem Holzpfahl thronte er oben auf einer gemauerten Steinsäule und wurde von einem eleganten steinernen Rundbogen überspannt. Wie hatten die Hersteller das nur fertiggebracht? Wie hatten sie es geschafft, dass der dünne Metallkasten nicht von der Last aus Steinen und Zement erdrückt wurde, ging es Jonas flüchtig durch den Kopf.
    Chip griff hinein und zog einen dicken Stapel mit Briefen und Handzetteln heraus.
    »Rechnung, Rechnung, Werbung . . .«, sah Chip den Stapel durch, und mit jedem Brief, der kein schlichter, an ihn adressierter Umschlag ohne Absender war,klang er ein wenig ruhiger. Jonas bemerkte, dass auf einigen Briefen der Winstons die gelben Nachsendeaufkleber prangten, mit denen die Post von Leuten weitergeleitet wurde, die umgezogen waren, indem man einfach die neue Adresse über die alte klebte.
    »Moment mal«, sagte Jonas. »Als du den Brief am Samstag bekommen hast, hat man ihn dir von deiner alten Adresse aus nachgeschickt oder kam er direkt an deine neue Anschrift?«
    »Weiß ich nicht mehr.« Chip sah einen Augenblick von seiner Sortierarbeit auf. »Direkt an diese Adresse, glaube ich. Warum?«
    »Oh, gut«, sagte Jonas. »Das heißt, es könnten auch einfach nur Leute aus der Schule sein, die Quatsch machen. Niemand hier kennt deine alte Adresse.«
    Vielleicht hatten die meisten Siebtklässler solche seltsamen Briefe erhalten wie er und Chip. Er hätte sich unter seinen Bekannten besser umhören sollen, statt wie benebelt herumzulaufen.
    »Aber woher wussten sie, dass ich adoptiert bin, wenn ich es nicht einmal selbst wusste?«, fragte Chip mit brüchiger Stimme und beugte den Kopf wieder über die Post.
    » Verschollen
heißt nicht unbedingt
adoptiert
«, wandte Jonas ein. »Vielleicht gibt es im Schulsekretariat eine Liste mit allen adoptierten Kindern und jemand hat sich in den Schulcomputer eingehackt und findet es wahnsinnig komisch . . .«
    Jonas brach ab, weil Chip ihm nicht mehr zuzuhören schien. Er war plötzlich kreidebleich im Gesicht. Langsam hielt er drei Umschläge hoch; drei schlichte Umschläge ohne Absender. Allesamt an Chip adressiert; zwei davon mit gelben Nachsendeaufklebern. Einer der Aufkleber hatte sich ein wenig abgelöst und Jonas konnte darunter die Worte »Winnetka, Illinois« erkennen.
    Winnetka war der Ort, an dem Chip früher gewohnt hatte.
    »Mach du sie auf«, sagte Chip. »Ich schaff das nicht.«
    Jonas holte tief Luft und nahm ihm die Briefe aus der Hand. Er riss sie mit einem Ruck auf, genauso wie er es mit Heftpflastern machte.
    »DU BIST EINER DER VERSCHOLLENEN«, stand in dem ersten Brief. Und dann: »VORSICHT! SIE KOMMEN ZURÜCK, UM DICH ZU HOLEN.« Und im nächsten noch einmal: »VORSICHT! SIE KOMMEN ZURÜCK, UM DICH ZU HOLEN.«
    Jemand hatte Chip von jedem Brief zwei Ausfertigungen geschickt, eine an seine alte und eine an seine neue Adresse.
    »Wow«, sagte Jonas. »Wer auch immer die geschickt hat, wollte sichergehen, dass du sie bekommst.«
    Chip klappte den Mund auf, doch es hatte nicht den Anschein, als wollte er etwas sagen. Er schien die Kontrolle über seine Kiefermuskeln verloren zu haben.
    »JO-NAS!«, brüllte jemand die Straße herauf, aus der Richtung von Jonas’ Elternhaus. Es war Katherine.
    »Was ist?«, rief Jonas zurück.
    »Du hast eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter«, brüllte Katherine. »Dad will, dass du ihn gleich zurückrufst.«
    Katherines große Identitätskrise – Cheerleader versus Basketballerin? – interessierte Jonas nicht sonderlich, aber, schoss es ihm in diesem Moment durch den Kopf, die richtige Lungenkapazität für einen Cheerleader hat sie mit Sicherheit.
    Außerdem war es unendlich erleichternd, an solche Dinge zu denken, an etwas so Normales, Sinnloses und Ärgerliches wie Katherine.
    »Okay!«, brüllte er zurück und klang dabei völlig normal.
    Chip packte ihn am

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