Die Entfuehrten
Adoption freigegeben«, sagte er. »Und das ist vielleicht gerade dreizehn Jahre her und sie hat gedacht, Chip könne ihr Sohn sein, und das war einfach zu viel für sie. Du weißt doch, dass manche Eltern ihre Kinder gern wiederhaben wollen. Und andere wollen überhaupt nichts mehr mit ihnen zu tun haben und lieber so tun, als wäre nie was passiert.« Zum ersten Mal konnte Jonas diese Haltung fast ein wenig verstehen. Und noch etwas fiel ihm ein. »He, vielleicht ist sie tatsächlich Chips echte Mutter. Oder . . . oder meine. Vielleicht ist das die eigentliche Bedeutung von
Zeugen
. Es könnte so eine Art Codewort sein.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Katherine.
»Warum nicht?«, fragte Jonas herausfordernd.
»Es sieht mir einfach nicht danach aus«, erwiderte Katherine.
»Ja, klar, du kennst dich damit natürlich bestens aus«, spottete Jonas. Aber er war nicht wirklich bei der Sache, denn sie waren nun an der Stelle angelangt, an der er zu seinem Zimmer hinaufgesehen und den Einbrecher entdeckt hatte. Er musste einfach zu den Fenstern hochsehen, doch sie waren dunkel und undurchdringlich.
Katherine erzählte er nichts von dem Einbrecher. Er würde es weder ihr noch Chip sagen, vielleicht konnte er die Sache sogar selbst vergessen.
»Jonas«, sagte Katherine ernst. »Chip und ich werden der Sache auf den Grund gehen. Und wenn es so weit ist, wirst du uns dafür dankbar sein. Und froh. Dann hast du endlich deine Ruhe.«
Sie waren inzwischen an der Haustür angelangt. Jonas legte die Hand auf den Türgriff. Sein bislang so sicher geglaubtes Zuhause war jetzt nur noch ein Ort, an dem er Gefahr lief, Gespenster zu sehen, an dem er befürchten musste, dass seine Geheimnisse ans Licht gezerrt wurden, und an dem er sich Gedanken um seine besorgten Eltern machen musste. Er war jetzt schon fix und fertig.
»Katherine?«, sagte er.
»Was?« Sie drehte sich neugierig zu ihm um.
»Du hast keine Ahnung, wovon du redest.«
Fünfzehn
Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Jonas bekam keine merkwürdige Post mehr und niemand stöberte nach den Briefen, die er bereits bekommen hatte. Er entdeckte auch keinerlei Hinweise auf Geister oder Einbrecher.
Katherine und Chip bestanden darauf, ihn weiterhin über die Fortschritte ihrer Nachforschungen zu unterrichten, ganz egal, wie oft Jonas ihnen sagte, dass es ihn nicht kümmere. Er versuchte, sie einfach nicht zu beachten. Aber er wusste, dass sie vorhatten, auch sämtliche Namen anzurufen, die auf der Liste der Überlebenden standen.
»Es wäre einfacher, wenn Katherine die Kamera ein wenig ruhiger gehalten hätte«, erzählte Chip Jonas am dritten Tag morgens an der Bushaltestelle. »Sieh dir das an.« Er zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Tasche, einen Computerausdruck der Fotos, die Chip zusammenmontiert hatte. Er deutete auf eine Stelle, an der zwischen den Worten eine Lücke klaffte. »Genau da. Sie hat die Adresse und die Telefonnummerder Person erwischt, aber ich weiß nicht, nach wem ich fragen soll, wenn ich anrufe. Und dann hier unten, direkt darunter. Sie hat nur den Namen und die Straße, aber nicht mal einen Städtenamen, also kann ich die Telefonnummer auch nicht über das Internet herausfinden. Es ist total frustrierend.«
»Hm«, sagte Jonas und warf kaum einen Blick auf das Blatt. Doch dann gewann seine Neugierde die Oberhand. Da er mit Chip und nicht mit Katherine sprach, beschloss er, zumindest eine Frage zu riskieren.
»Was erzählt ihr diesen Leuten bloß, wenn ihr sie anruft?«
»Wir fragen, wer sie sind«, sagte Chip. »Was sie überlebt haben. Und warum ihr Name auf einer Liste des FBI steht.«
»Und wissen sie das?« Jonas achtete darauf, Chip bei dieser Frage nicht anzusehen, sondern so zu tun, als sei er mehr daran interessiert, nach dem Bus Ausschau zu halten, als Chips Antwort zu lauschen.
»Keiner von ihnen weiß etwas von der Liste. Sie haben Dinge überlebt wie gebrochene Arme, Masern, kleine Autounfälle und . . .«, Chip sah Jonas von der Seite an, ». . . und eine Adoption.«
Jonas beschloss, darauf nicht zu antworten.
»Sie reden mit euch? Mit wildfremden Leuten, die sie aus heiterem Himmel anrufen?« Er fragte sich, ob alle Leute so vertrauensselig waren wie seine Eltern.
»Meistens nicht sofort«, sagte Chip. »Jedenfalls nicht,bis ich ihnen erzähle, dass ich gerade von meiner Adoption erfahren und diese komischen, irgendwie unheimlichen Briefe bekommen habe – und dass mein Name auch auf der Liste der
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