Die Entfuehrten
hat Mr Reardon bei Mom und Dad versucht.«
Chip sah Katherine skeptisch an.
»Aber was hat das mit dem Geist zu tun?«, fragte er.
» Das
habe ich noch nicht herausgefunden«, sagte Katherine mit einem leisen Lachen. »Aber das kriege ich auch noch raus.«
Sie klang, als sei die ganze Geschichte für sie nicht mehr als eine spannende Matheaufgabe oder als überlege sie gerade, wie sie ihre Eltern dazu bringen konnte, an einem Wochentag bis spätnachts aufbleiben oder zum Abendessen nichts als Eiskrem essen zu dürfen. Für sie war das alles nur ein faszinierendes Rätsel. Es war schließlich nicht
ihr
Leben.
»Wie auch immer«, sagte Jonas und entzog sich ihrem Griff. »Bleib von mir aus hier, bis du alles ausbaldowert hast. Ich gehe nach Hause.«
Er rechnete ein bisschen damit, dass sie ihm folgen würde – schließlich war sie
seine
Schwester und nicht Chips Freundin –, doch als er über die Schulter sah, hatten sich die beiden bereits abgewandt und hingen wieder vor dem Computer.
Schön, dachte Jonas. Ist mir doch egal.
Als er die Treppe ins Erdgeschoss hinaufstieg, hörte er im Wohnzimmer eine Sirene plärren. Ein Frau – Chips Mutter vermutlich – sagte unglücklich: »Immer musst du dir diese brutalen Streifen ansehen.« Jonas erwog, ins Wohnzimmer hinüberzugehen, den Kopf durch die Tür zu stecken und zu Chips Eltern zu sagen: »Es wäre besser, Sie wüssten Bescheid über das, was in Ihrem Souterrain vor sich geht. Chip sucht gerade nach einer neuen Identität, die mit Ihnen nichts zu tun hat.« Stattdessen durchquerte er das dunkle Esszimmer und schlüpfte durch die Haustür hinaus.
Draußen kam ihm ein neuer Gedanke. Chip hatte mehr oder weniger zugegeben, eine Schwäche für Katherine zu haben. Was war, wenn Katherine auch für Chip eine Schwäche hatte? Was, wenn es eigentlich nur
darum
ging?
Unerklärlicherweise fühlte sich Jonas plötzlich einsam. Er lief mutterseelenallein durch die dunkle Straße, in der die Bäume unheimliche Schatten auf den Bürgersteig warfen. He, ihr Entführer, dachte er, ihr wollt mich zurück? Das wäre
die
Gelegenheit, um mich zu schnappen!
Er schauderte, obwohl es für Oktober noch kein bisschen kalt war.
Ich hätte Mom und Dad davon erzählen sollen, überlegte er. Zumindest von dem zweiten Brief.
Er wusste, warum er es nicht getan hatte. Sie hätten einen Riesenwirbel gemacht, sich furchtbar aufgeregt, die Polizei gerufen . . . all das wollte Jonas nicht. Er wollte, genau wie Katherine, dass seine Eltern sich normal verhielten. Und da sie sich ohnehin genug über das Treffen mit Mr Reardon aufgeregt hatten, konnte er ihnen jetzt erst recht nichts erzählen. Es wäre herzlos, sie damit zu überfallen.
Die Straße machte einen leichten Bogen und zwischen den Bäumen tat sich eine Lücke auf, die den Blick auf sein Elternhaus freigab. Mom hatte am Bürgersteig und entlang des Gartenzauns (ausgerechnet einem weißen Palisadenzaun) Chrysanthemen angepflanzt. Seine Eltern hatten wirklich ein Faible für diese alten Heile-Welt-Klischees. Das Erkerfenster des Wohnzimmers wölbte sich einladend nach außen, die Lichter funkelten . . . sein ganzes Zuhause strahlte Geborgenheit aus. Jonas wollte einfach nur hineingehen, ins Bett kriechen, sich die Decke über den Kopf ziehen und schlafen, bis alles Beängstigende aus seinem Leben verschwunden war.
Sehnsüchtig sah er zu den beiden Fenstern im ersten Stock hinauf, die zu seinem Zimmer gehörten. Es brannte kein Licht, aber aus dem Gang fiel ein schwacherLichtschimmer hinein, sodass er einige vage Umrisse ausmachen konnte: seinen Schrank, den Schreibtisch, die Bettpfosten . . .
Einer der Umrisse bewegte sich.
Noch während er hinsah, schloss ein dunkler Schatten, nein, eine
Person
, langsam die Tür seines Zimmers, sodass das Licht ausgesperrt wurde und die Fenster völlig im Dunkeln lagen. Dann leuchtete ein kleiner Lichtstrahl auf – eine Taschen- oder eine Stiftlampe vielleicht? – und huschte über seinen Schreibtisch.
Jonas rannte los.
Vierzehn
Er stürmte durch die Eingangstür.
»Mom? Dad?«, rief er anklagend. Wenn sie in seinem Zimmer herumschnüffelten, würde er wirklich sauer werden.
Er schwänzte nicht die Schule, um auf sich aufmerksam zu machen, also gab es auch keinen Grund, seine Sachen zu durchsuchen.
Mom schaute aus der Küche und trocknete sich an einem Geschirrtuch die Hände ab.
»Dad und ich sind hier hinten«, sagte sie.
Jonas sauste um die Ecke und sah seinen Vater vor dem
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