Die Entfuehrten
Überlebenden steht. Normalerweise bringen die Briefe sie zum Reden.«
»Sie haben auch welche bekommen«, sagte Jonas. Das war keine Frage. Chips Stimme hatte es ihm verraten.
»Katherine hat es dir schon erzählt, was?«, fragte Chip. »Alle, die wir angerufen haben.«
Jonas wollte nicht zugeben, dass er sich die größte Mühe gegeben hatte, alles auszublenden, was Katherine ihm hatte berichten wollen. Er sah sich nach seiner Schwester um. Sie stand mitten unter den anderen Kindern, die im Schein der Straßenlampe lachten und schwatzten, doch sie lachte nicht mit. Sie sah angespannt zu ihm und Chip herüber.
»Ihr habt nur mit fünf oder sechs Leuten geredet, stimmt’s?«, hakte Jonas nach. »Das hat Katherine mir erzählt, glaube ich. Das sind nicht sehr viele. Nicht genug, um daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist keine . . .«, er suchte nach dem richtigen Fachbegriff dafür, »statistisch signifikante Anzahl.«
Wow, sein Mathelehrer wäre stolz darauf, dass Jonas das behalten hatte.
»Bisher sind es siebzehn«, sagte Chip.
Jonas fiel ein, dass Katherine Chip am vergangenen Abend nicht hatte helfen können, weil sie zur Gymnastikmusste. Er schämte sich ein bisschen, dass er Chip nicht selbst geholfen hatte.
»Und«, fuhr Chip fort, »jeder einzelne
Überlebende
, mit dem oder der ich gesprochen habe, ist ein Adoptivkind. Alle sind dreizehn Jahre alt oder werden es im Laufe des nächsten Monats. Sie haben alle im Herbst Geburtstag. Und alle sind mit ungefähr drei Monaten adoptiert worden.«
Genau wie ich, dachte Jonas.
»Was sind das für Leute? Klone?«, fragte er sarkastisch. »Hast du dich nach ihrer DNA erkundigt?«
»Acht von ihnen sind Mädchen, drei Asiaten und zwei Schwarze. Also keine Klone, Jonas.«
Jonas beschloss, die Witze sein zu lassen.
»Das Seltsamste von allem habe ich dir noch gar nicht erzählt«, sagte Chip. »Sie leben alle hier in Liston oder in Upper Tyson oder Clarksville.« Upper Tyson und Clarksville waren die beiden nächstgelegenen Vororte.
»Na und?«, sagte Jonas herausfordernd. »Was soll daran seltsam sein? Vielleicht ist das einfach das Zuständigkeitsgebiet des FB I-Büros , in dem ich war.«
Chip schüttelte den Kopf.
»Die meisten Kinder wurden woanders adoptiert, so wie ich«, sagte er. »Aber selbst die, die früher woanders gewohnt haben, sind hierhergezogen. Und zwar alle innerhalb der letzten sechs Monate. Das sind zwölf Kinder, die seit Juni hergezogen sind.«
Jonas überliefen plötzlich kalte Schauer. Dann fiel ihm etwas ein.
»Moment. Lass mich die Liste noch mal sehen.«
Chip zog das Blatt wieder aus der Tasche. Jonas riss es seinem Freund aus der Hand und stach mit dem Zeigefinger auf eine Zeile.
»Siehst du, die Person hier, nach der du mich schon gefragt hast, hat eine Adresse in Ann Arbor, Michigan«, erklärte er triumphierend. »Das ist total weit weg, in einem ganz anderen Bundesstaat. Vielleicht hat Katherine nur zufällig die Informationen der Leute komplett erwischt, die in der Nähe wohnen. Und, warte, hier ist noch jemand in Winnetka, Illinois. Es gibt also mindestens zwei Leute, die woanders leben . . .«
»Das in Winnetka bin
ich
, Jonas«, sagte Chip. »Ich stehe zweimal auf der Liste, mit meiner neuen und mit der alten Adresse, genauso wie ich jeden dieser komischen Briefe doppelt bekommen habe.« Er stockte. »Ach, jetzt verstehe ich . . .«
»Was?« Auch Jonas kam plötzlich ein Gedanke. »Glaubst du, das FBI hat uns die Briefe geschickt?«
»Nein . . . keine Ahnung«, sagte Chip geistesabwesend. »Aber diese Person in Ann Arbor. Das ist ein Mädchen und sie heißt Daniella McCarthy.«
Das Einzige, was Jonas über der Adresse,
103 Destin Court, Ann Arbor, Michigan
, erkennen konnte, war ein kleiner Strich, genau über dem
t
von
Court
. Es mochte der Bogen des Ypsilons am Ende von McCarthy seinoder einfach ein kleiner Knick im Papier, der auf dem Foto größer und dunkler wirkte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Jonas.
»Ich wette, es ist dasselbe Mädchen wie hier unten, in der
1873 Robin’s Egg Lane
«, sagte Chip. »Und ich wette, es gibt irgendwo in Upper Tyson oder Clarksville eine Robin’s Egg Lane. So funktioniert die ganze Liste – alte Adresse, neue Adresse. Wetten, wenn ich diese Nummer in Ann Arbor anrufe, höre ich eine dieser Ansagen: ›Tut, tut, tut . . . die Rufnummer des Teilnehmers hat sich geändert. Die neue Nummer lautet . . .‹« Er ließ seine Stimme künstlich klingen,
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