Die Entfuehrten
einflößende Stimme, sondern klang einfach nur verlegen.
»Okay«, sagte Chip. »Aber kommt schnell wieder.«
Er hörte sich an, als wollte er nicht alleingelassen werden, schäme sich aber, das zuzugeben.
Jonas und Katherine brachten die Räder zurück in ihre eigene Garage.
»Du kannst bei Mom und Dad duschen«, sagte Katherine, ohne ihn direkt anzusehen. Das war eine überaus freundliche Geste von ihr – vermutlich ein Zeichendafür, dass er ihr leidtat –, denn das Bad ihrer Eltern war größer und schöner als das, das er und Katherine sich teilten. Normalerweise sauste sie immer vor ihm ins schönere Badezimmer, warf die Tür zu, verriegelte sie und schrie dann: »Ha, ha, ha! Gewonnen! Wer nicht rennt, der hat’s verpennt!«
»Danke«, murmelte Jonas.
Im Augenblick interessierte es ihn herzlich wenig, wo er duschte.
Er stand lange unter dem harten Strahl, nachdem er sich eingeseift und abgewaschen hatte. Das heiße Wasser fühlte sich gut an, auch wenn seine Eltern ewig meckerten, sie sollten kein Wasser und keinen Strom verschwenden.
»Euch Kindern sollte die Zukunft am Herzen liegen«, sagte seine Mutter immer, »denn ihr müsst in ihr leben.«
»O nein«, stöhnte Jonas. »War es das, worum es ging? In vielen Büchern und Filmen, die er gesehen hatte, kamen Leute aus der Zukunft zurück in die Vergangenheit, um vor der Klimakatastrophe oder Ähnlichem zu warnen. Was war, wenn er, Chip und die anderen Kinder die Aufgabe hatten, den Leuten klarzumachen, dass sie jetzt sofort drastische Veränderungen vornehmen mussten, um die Welt der Zukunft zu retten?
»Es reden so viele Leute von der Klimakatastrophe«, sagte er laut, auch wenn er nicht genau wusste, zuwem er gerade sprach. »Mir wird sowieso niemand zuhören.«
Und wenn es hierbei um Umweltschutz ging, warum bekämpften sich dann die beiden Seiten? Wollte der Hausmeisterknabe, dass er hierblieb und seine Nachricht überbrachte? Und wollte der andere Mann, dass die Welt unterging?
Jonas konnte die Dusche nicht mehr genießen. Er drehte das Wasser ab, trat aus der Kabine und zog ein Handtuch vom Halter. In der Ferne hörte er das Telefon klingeln. Sein Vater musste vom Footballspiel aufgestanden sein, um ranzugehen. Katherine stand sicher noch unter der Dusche, weil sie immer Ewigkeiten brauchte, wie Jonas wusste. Und danach brauchte sie eine weitere Ewigkeit, um ihre Haare zu föhnen. Wenn sie es schaffen würden, vor Mitternacht wieder bei Chip zu sein, wäre das ein Wunder.
»Jonas?« Sein Vater rief die Treppe hoch. »Chip ist am Telefon. Er sagt, es sei dringend. Kannst du oben ans Telefon gehen?«
»Klar«, sagte Jonas.
Er band sich das Handtuch um die Taille und ging zum Telefon im Schlafzimmer seiner Eltern.
»Ich hab’s, Dad«, rief er nach unten. Er hörte das Klicken, das bedeutete, dass sein Vater aufgelegt hatte. »Hallo?«
»Es ist alles weg«, sagte Chip mit brüchiger Stimme.
»Was ist weg?«
»Die Listen auf meinem Computer. Die Listen mit den Überlebenden und den Zeugen und die Dateien, in denen Katherine und ich mit Checklisten festgehalten haben, wer was gesagt hat. Es ist alles verschwunden. Aber der Rest des Computers ist okay. Wie kann das nur sein?« Chip klang leicht hysterisch.
»Beruhige dich«, sagte Jonas. »Vielleicht hast du einfach aus Versehen etwas gelöscht. Hast du im Papierkorb nachgesehen?«
»Nichts da.«
»Hast du denn keine Sicherungskopien gemacht?«
Stille. Offensichtlich nicht.
»Aber du hast Ausdrucke von allem«, erinnerte ihn Jonas.
»Die habe ich in der Bücherei liegen gelassen«, stöhnte Chip. »Ich habe sie von Angela nicht zurückbekommen, bevor wir aus dem Fenster geklettert sind – hast du sie mitgenommen? Oder Katherine?«
Jonas dachte nach. Er erinnerte sich daran, dass die Unterlagen, unmittelbar bevor der erste Mann gegen die Tür gekracht war, vor Angela auf dem Tisch gelegen hatten. Was war dann mit den Listen geschehen? Hatte der Wind die Seiten leicht angehoben, als er den Tisch umrundet und zum Fenster gerannt war? Und waren sie, nachdem er aus dem Fenster geklettert war und sich von draußen noch einmal umsah, über den Tisch gerutscht, als die beiden Männer von unten dagegenstießen? Warum hatte er nicht besser aufgepasst?Und warum hatte er sich die Unterlagen im Laufen nicht einfach geschnappt?
»Es war nicht genug Zeit!«, sagte Jonas in unnötig barschem Ton.
»Vielleicht könnte ich in der Bücherei anrufen«, sagte Chip verzweifelt, »vielleicht hat sie
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