Die Entfuehrten
bisherigen Leben?
Vielleicht waren Zeitreisen doch nicht ganz so einfach.
Du musst vorsichtig sein! Pass auf, wo du Dinge hinterlässt, die man später finden kann . . . alles, was sich überwachen lässt . . .
Später finden . . . überwachen . . .
Vielleicht hatte er mit »später« auch das Überwachen gemeint. Falls ja, waren vielleicht auch möglichen Zeitreisen Grenzen gesetzt. Vielleicht hing es mit der Erddrehung zusammen oder mit Sonnenflecken oder ähnlich bizarren Dingen. Daher war alles, was geschrieben wurde, gefährlich,weil man es zu jeder Zeit sehen konnte. Andere Dinge, die man überwachen konnte, waren Handybilder und Computerfestplatten und . . .
Jonas stockte der Atem.
»Chip, ich kann im Moment nicht reden. Nicht am Telefon.«
»Warum?«, wollte Chip wissen. »Das ist doch verrückt. Du hörst dich schon an wie Angela.«
»Was ist, wenn sie recht hat?«
Zweiundzwanzig
Jonas, Chip und Katherine lümmelten sich in den Sesseln in Chips Reich im Souterrain.
»Ist es hier sicher?«, fragte Katherine. »Können wir reden?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jonas unglücklich. »Wie lange bleiben Schallwellen in der Luft?«
»Das kann ich im Netz nachschauen«, sagte Chip. Er drehte sich zum Computer um und begann zu tippen:
Wie lange . . .
»Chip, jemand könnte dein Suchverzeichnis überprüfen und herausfinden, dass du diese Frage gestellt hast«, wandte Jonas ein.
»Na und? Das könnten doch meine NaWi-Hausaufgaben sein«, sagte Chip. Trotzdem hörte er auf zu tippen. Die Worte
Wie lange . . .
blieben auf dem Bildschirm.
Wie lange müssen wir allem noch nachgehen?, fragte sich Jonas. Wie lange wird es dauern, bis jemand aus dem Nichts auftaucht und uns einfach mitnimmt?
Er hatte Chip und Katherine endlich erzählt, dass eran jenem Abend, an dem sie die Listen der Zeugen und Überlebenden entdeckt hatten, in seinem Zimmer einen Eindringling gesehen hatte. Und dann hatte er ihnen von seiner Vermutung erzählt, dass jemand – der Hausmeisterknabe oder sein Feind? – durch die Nachricht in seinem Schreibtisch von Chips Computerdateien erfahren hatte. Und dass dieser Jemand, wer immer es auch sein mochte, wenn er es fertiggebracht hatte, Jonas’ Notiz und Chips Computerdateien zu finden, auch ihre Telefonleitungen abhören könnte. Nach allem, was Jonas wusste, mochte jemand in der Zeit zurückgereist sein, um vor zehn Jahren ihre Telefonleitungen anzuzapfen, und sich in diesem Moment ihre fünfzig Jahre später geführten Gespräche anhören.
Allmählich verlor er den Mut. Wie konnte man sich jemandem mit derartiger Macht widersetzen?
»Also gut«, sagte Katherine munter. »Gehen wir davon aus, dass wir gefahrlos reden können. Wenn nicht, lässt es sich sowieso nicht ändern. Chip, hast du irgendwo Papier?«
»Ich habe es dir doch erklärt, Katherine. Sie können alles lesen, was wir aufschreiben!«
Katherine verdrehte die Augen und bückte sich, um ein Blatt Papier aus Chips Drucker zu ziehen. Sie klaubte einen Kugelschreiber aus einem Stapel Computerspiele und wich Jonas’ Händen aus, als dieser ihr den Kugelschreiber wegnehmen wollte.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie ungeduldig. »Ich zerstöredie Beweismittel, sobald ich fertig bin. Ich esse das Papier sogar, wenn es sein muss. Aber wir müssen uns irgendwie organisieren!«
Sie beugte sich über den Computertisch und versah ihr Blatt mit zwei Überschriften:
Was wir wissen
und
Was wir glauben
. Dann trennte sie die beiden Rubriken mit einem langen Strich in der Mitte ab. Unter
Was wir wissen
schrieb sie:
HK gab uns die Listen mit Zeugen und Überlebenden
. Und unter
Was wir glauben
setzte sie
Also ist HK wahrscheinlich nicht derjenige, der sie uns weggenommen hat
.
»HK?«, fragte Chip.
»Hausmeisterknabe«, erklärte Katherine. »Ich hätte ihn auch SHK genannt, süßer Hausmeisterknabe, aber das ist schließlich nur meine Meinung. Ihr beide seht das vermutlich anders, also . . .«
»Katherine!«, knurrte Jonas mit zusammengebissenen Zähnen. Er zeigte auf die Liste. »Bleib bei der Sache!«
Katherine grinste triumphierend und sah kein bisschen schuldbewusst aus. Jonas begriff, dass sie ihn womöglich mit Absicht hatte reizen wollen, um ihn aus seiner trüben Stimmung zu reißen. Vergnügt schüttelte sie die nassen Haare, dass es nur so aufs Papier tropfte.
Moment mal. War Katherine tatsächlich bereit gewesen, zu Chip zu gehen, ohne sich vorher die Haare zu föhnen? Jonas war so durcheinander gewesen, dass ihm das
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