Die Entfuehrten
ihr Pferdeschwanz hin- und herflog.
»Also ehrlich«, sagte sie empört. »Der süße Hausmeisterknabe hätte ruhig ein bisschen deutlicher werden können, wenn er euch wirklich warnen wollte. Mit Namen, Daten – irgendwas, mit dem ihr zur Polizei gehen könntet.«
»Die Polizei würde uns das nie im Leben abkaufen«, stöhnte Chip. »Ich kann es ja selbst kaum glauben!«
Jonas spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Diesmal nicht als Folge des Geradels und des Gerennes. Diesmal war es neuer Schweiß, Angstschweiß, ein Zeichen dafür, dass sein Körper fand, er solle entsetzliche Angst haben.
»Wir müssen Folgendes machen«, sagte Katherine und warf den Kopf so nachdrücklich zurück, dass ihr der Pferdeschwanz auf den Rücken klatschte. »Wir müssen alle anderen Kinder auf der Liste der Überlebendenanrufen und herausfinden, ob sie Situationen erlebt haben, in denen jemand versucht hat, sie zu fangen, oder ob jemand anderes versucht hat, sie zu beschützen. Wir müssen Informationen sammeln, herausfinden, ob einer von ihnen schon jemals beobachtet hat, wie sich jemand einfach in Luft auflöst.
Und
wir müssen sie warnen. Sie wissen lassen, was wir wissen.«
»Aber wir wissen doch gar nichts«, wandte Chip ein.
»Wir wissen von dem Flugzeug«, sagte Katherine. »Wir kennen Angelas Vermutung darüber, woher das Flugzeug stammt. Wir wissen, wie der Hausmeisterknabe aussieht. Und wir wissen, was einer dieser Briefe zu bedeuten hat.«
Derartig aufgezählt, hörte sich Katherines Plan fast vernünftig an. Sie klang genauso ruhig, wie Mom es immer tat, wenn sie eine Krise zu meistern hatte. Einmal, als Jonas noch klein gewesen war, hatte er ein Glas fallen lassen, das auf dem Küchenboden zersplittert war. Mom war sofort zur Stelle gewesen und hatte mit ihrer sanftesten Stimme zu ihm gesagt: »Ja, Jonas, ich sehe, dass hier überall Glassplitter auf dem Boden liegen und dass du barfuß bist, und das ist schon ein bisschen beängstigend. Aber wenn du einfach stehen bleibst und dich nicht vom Fleck rührst, dann hebe ich dich hoch und dir wird nichts passieren. Und dann fege ich die ganzen Splitter auf.«
Jonas war ohne einen Kratzer davongekommen. Wenn Katherine in dieser Situation den gleichen Tonfallzustande brachte, war er gewillt, ihr die Kontrolle zu überlassen.
»In Ordnung«, sagte er.
Chip zuckte die Achseln. »Wie ihr meint.«
Sie hoben ihre Räder auf und schoben sie in Richtung Fahrradweg. Chip und Katherine hatten kein Fußballspiel absolviert und vorhin nicht ganz so wild in die Pedale getreten wie Jonas, trotzdem schien es keiner von ihnen sonderlich eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Sie fuhren langsam und blieben immer wieder stehen, weil einer von ihnen etwas sagen wollte: »Wenn es so etwas wie Zeitreisen wirklich gibt . . .« oder »wenn wir wirklich aus der Zukunft kommen . . .« oder »wenn dieses Flugzeug wirklich eine Zeitmaschine war . . .«
Keiner schien in der Lage zu sein, einen vollständigen Satz zu bilden und aus einem der vielen Wenns einen logischen Schluss zu ziehen.
Weil es keinen logischen Schluss gibt, sagte sich Jonas. Er hatte Bücher über Zeitreisen gelesen, Filme über Zeitreisen gesehen, und irgendwie waren sie ihm immer unlogisch erschienen. Die Leute konnten darin immer wieder vor- und zurückreisen und die Zeit verändern, bis sich die Dinge so ergaben, wie sie es wollten. Und gab es da nicht auch ein Paradox, von dem er schon einmal gehört hatte? Irgendetwas mit einem Großvater? Ach ja, Zeitreisen konnte es deshalb nicht geben, weil man ansonsten in die Vergangenheit reisenund seinen eigenen Großvater umbringen könnte. Aber wenn man den eigenen Großvater umbrachte, würde man selbst nicht existieren und könnte demnach auch nicht in die Vergangenheit reisen. Dann würde der Großvater also weiterleben und man selbst würde ebenfalls existieren, könnte also doch in die Vergangenheit reisen, um den Großvater zu töten, könnte dann aber niemals geboren werden . . .
Jonas bekam Kopfschmerzen, wenn er nur darüber nachdachte.
Als sie bei Chip ankamen, stellten sie die Räder ausnahmsweise ordentlich in der Auffahrt ab. Obwohl sie langsam gefahren waren, war Jonas schweißgebadet.
»He, ich stinke wie die Pest«, sagte er. »Wenn ihr nicht wollt, dass deine ganze Bude nach mir mieft, sollte ich lieber duschen, ehe wir die Leute anrufen.«
Katherine schnüffelte an sich.
»Uh, ich auch«, sagte sie. Sie hatte nicht mehr Moms Respekt
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