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Die Entfuehrung

Die Entfuehrung

Titel: Die Entfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Watts
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verstreut Dörfer, kleine Ansiedlungen mit roten Ziegeldächern. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees erhob sich eine Bergkette, deren scharf gezackte Gipfel sich vom Himmel abhoben. Zu seiner Linken befand sich der Wasserfall, dem sie so knapp entronnen waren. Alistair zog scharf die Luft ein, als er sah, wie hoch er war. Den Sturz hätten sie auf keinen Fall überlebt.
    »Wir müssen dorthin.«
    Alistair folgte Tibbys Zeigefinger. Direkt unter ihnen war eine Straße, und zu Alistairs Erleichterung bestand der Abhang dorthin aus losem Geröll, nicht aus heimtückischen Felsen. Halb rannten sie, halb schlitterten sie hinunter und kamen unten atemlos an. Auf der anderen Seite der Straße erstreckten sich Weinberge. Dicke, dunkelviolette Trauben hingen an den Rebstöcken. Essen! Alistair pflückte eine pflaumenfarbene Weinbeere von einem Rebstock und steckte sie in den Mund. Doch statt des typischen saftigen Geschmacks, den er erwartet hatte, war die Traube sauer und herb.
    »Igitt«, sagte er und spuckte sie aus.
    Tibby kicherte. »Das sind keine Speisetrauben«, erklärte sie ihm. »Aus denen macht man Wein.«
    »Sie schmecken scheußlich«, sagte Alistair. »Ich weiß nicht, warum die Leute Wein trinken, wenn er so schmeckt.«
    »Ich finde, wir sollten uns vornehmen, nie wieder etwas zu essen, das violett ist«, sagte Tibby. »Violett hängt mir echt zum Hals raus.«
    Während sie die Straße entlangstapften, vorbei an lauterWeinstöcken voller ungenießbarer Trauben, fragte Alistair: »Was hat dich darauf gebracht, die Stange quer zwischen die beiden Ränder des Wasserfalls zu klemmen?«
    »Charlotte Tibbys Handbuch zum Überleben«, sagte Tibby. »Das Kapitel, wie man Wasserfälle überlebt.«
    »Wenn wir nach Hause kommen, schreibe ich Charlotte Tibby einen Fan-Brief«, sagte Alistair. »Wenn du das Buch nicht gelesen hättest, würden wir wahrscheinlich immer noch in Tempelton am Fluss sitzen.«
    »Nur zu«, sagte Tibby Rose. »Die Adresse ist der Friedhof in Grantel. Charlotte Tibby ist ungefähr vor fünfzig Jahren gestorben.«
    »Ihre Ratschläge haben die Zeiten auf jeden Fall überdauert. Was rät sie einem, wenn man draußen vom Regen überrascht wird?«, fragte Alistair, denn genau in diesem Moment begann es wieder heftig zu gießen.
    »Sich unterstellen«, rief Tibby und fing an zu laufen.
    Sie waren ungefähr eine Viertelstunde durch den Regen gerannt und so durchnässt, dass Alistair sich fragte, warum sie überhaupt rannten, da entdeckte er ein kleines schachtelförmiges Gebäude etwas abseits der Straße, das von Weinstockreihen umgeben war.
    »Da rüber, Tibby.« Er ging auf das Gebäude zu, das wie ein einfacher weißer Karton aussah, mit nichts als einer Öffnung als Tür und zwei winzigen Fenstern daneben. Ein paar vertrocknete braune Efeuranken kletterten an einer Seite hoch und im Dach fehlten viele Ziegel. Alistair vermutete, dass es sich um eine Art Schuppen handelte, derwahrscheinlich nur während der Weinlese benutzt wurde, so verlassen und vernachlässigt wirkte das Häuschen. Der Trog, der an der einen Seite stand, musste allerdings ein Brunnen mit Quellwasser sein, denn als Alistair die Hand hineintauchte und an die Lippen hob, schmeckte das Wasser frisch und gut.
    Er schaute durch die Tür. Es war fast dunkel in dem Schuppen, nur wenig Licht drang durch die schmutzigen Fenster, und die Luft roch feucht und muffig. Da sich Alistairs Augen noch nicht ganz an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er mit Mühe ein paar Plastikbehälter, die aufgestapelt auf dem Lehmboden standen, zwei Eimer (einer mit zerbrochenem Henkel) und, an die Wand neben der Tür gelehnt, eine Baumsäge. In der hinteren Ecke lag ein Haufen alter Säcke.
    »Die Luft ist rein, Tib«, rief er über die Schulter. Sie kam ebenfalls herein. Beide schüttelten, so gut es ging, das Wasser aus ihrem Fell, und Alistair wrang wieder seinen Schal aus.
    »Ich hoffe, dass wir nicht sehr lange hierbleiben müssen«, sagte Tibby naserümpfend. »Riecht irgendwie schimmelig.«
    Plötzlich hörten sie ein heiseres Husten, das rasch unterdrückt wurde.
    Die beiden erstarrten.
    »Wer – wer ist da?«, fragte Alistair mit bebender Stimme.
    Es kam keine Antwort, aber Alistairs Augen hatten sich jetzt so gut an die Dunkelheit gewöhnt, dass er eine zitternde Gestalt erkannte, die unter einer dünnen Decke kauerte. Dann hustete die zitternde Gestalt wieder, und Alistair erinnerte sich, wo er das Husten schon mal gehört

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