Die Entfuehrung
so ist es bis zum heutigen Tag geblieben, obwohl Erandus und Martain seit Langem tot sind. Aber trotz der Tatsache, dass wir von Königin Eugenia regiert werden, ist Gerander keine Provinz von Souris. Gerander war ein unabhängiges Land – und wird es wieder sein.« Die letzten Worte sprach der Alte mit solcher Heftigkeit aus, dass er kurz außer Atem geriet.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Alistair. »Warum hat sich König Erandus Gerander aneignen wollen?«
Der Alte zuckte die mageren Schultern. »Was will ein großes Land mit einem kleineren? Sein Gebiet, seinen Reichtum ... Ach, ihr wisst bestimmt nicht, dass die Erträge aller Bauernhöfe in Gerander nach Souris geschickt werden, und nur ein kleiner Teil davon bleibt bei uns im Land, um unsere Leute zu ernähren. Wir sind fast am Verhungern, so gering ist unser Anteil! Aber man befiehlt uns, unsere Ernte für die ›Dienste‹ abzuliefern, die uns die Armee von Souris geleistet hat.«
»Aber das ist ja schrecklich!«, rief Tibby Rose. »Wenn Königin Eugenia wüsste, wie sehr die Leute aus Gerander leiden, würde sie doch bestimmt ...«
Der Alte lachte verbittert. »Wenn Königin Eugenia es wüsste? Natürlich weiß sie es. General Rußspinner von der sourisanischen Armee ist der mächtigste Mann in Gerander und er ist Königin Eugenia direkt unterstellt.«
Alistair schüttelte den Kopf. »Das hört sich nach einem wahnsinnig großen Aufwand an, um an die Ernte einiger Bauernhöfe zu kommen.«
»Richtig«, sagte der alte Mäuserich seufzend, »es ist auch komplizierter als das. Obwohl Gerander nur ein ziemlich schmaler Landstreifen ist, ist es von großer strategischer Bedeutung. Zum einen: Auch wenn Souris an der Sourisanischen See Häfen hat, ermöglicht Geranders Küste am Cannolianischen Meer Zugang zu einem Ozeanhafen und bietet Souris bessere Möglichkeiten, mit Ländern Handel zu treiben, die westlich des Cannolianischen Meers liegen.«
Er verstummte. Sein Kinn war auf seine Brust gesunken. Gerade, als sich Alistair schon fragte, ob der Alte eingeschlafen war, schüttelte er sich und fuhr fort: »Da ist natürlich noch etwas. Es gibt in Souris einige mächtigeMäuse, die finden, dass das Königreich Groß-Gerander wieder vereinigt werden sollte und dass die Hauptstadt von Gerander wieder Heim des Geschlechts Cornolius werden sollte. Und wer ist noch übrig vom Geschlecht Cornolius, um Groß-Gerander zu regieren?«
»Königin Eugenia«, flüsterte Tibby Rose.
»Korrekt«, sagte der alte Mäuserich, und Alistair hatte den Eindruck, dass er vielleicht einmal Lehrer gewesen war. »Aber sie ist nicht die Einzige ...«
»Wen gibt es denn sonst noch?«, fragte Alistair ratlos. »Schetlock hat keine Könige und Königinnen mehr. Die letzte Königin hat abgedankt, damit die Schetlocker selbst entscheiden konnten, wer sie regiert. Seither wählen wir stattdessen einen Präsidenten. Und Sie haben gesagt, dass Gerander inzwischen von Königin Eugenia regiert wird.«
»Vielleicht erinnert ihr euch daran, dass ich gesagt habe, einige der heldenhaftesten Mäuse seien rotbraun?«
Alistair und Tibby Rose nickten. Alistair hatte schon gehofft, dass der alte Gerandiner auf das Thema der rotbraunen Mäuse zurückkommen würde.
»Nun, einer dieser rotbraunen Helden ist ein Mäuserich namens ...« Die Stimme des Alten war voller Stolz und Ehrfurcht, als er den Namen aussprach: »Sansibar.«
»Wer ist Sansibar?«, wollte Alistair wissen.
»Sansibar ist der Sohn der Tochter von König Martain. Und er ist der rechtmäßige Erbe des Königreichs Gerander. Natürlich ist er deshalb zum eingeschworenen Feind von Königin Eugenia und General Rußspinner geworden.Sansibar hat die meiste Zeit seines Lebens im Verborgenen verbracht – und im Gefängnis. Aber er hat den Kampf, unser Heimatland zu befreien, niemals aufgegeben. Er ist es auch, der die Bewegung FUG ins Leben gerufen hat.«
»Die FUG?«
»FUG steht für Freies und Unabhängiges Gerander. Wir sind eine Widerstandsbewegung.«
Alistair fiel auf, dass er ›wir‹ gesagt hatte. Er war überrascht und ergriffen bei der Vorstellung, dass ein so alter und gebrechlicher Herr so tapfer für die Freiheit seines Volkes kämpfte.
»Aber in den vergangenen Jahren haben wir einige empfindliche Rückschläge hinnehmen müssen«, sagte der Alte bedrückt. »Sourisanische Agenten haben die Bewegung unterwandert. Viele von uns sind gefasst und ins Gefängnis gesteckt worden – auch ich und Sansibar. Das war vor zehn
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