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Die Entfuehrung

Die Entfuehrung

Titel: Die Entfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Watts
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Minuten in Gedanken verloren. Dann sagte er unvermittelt: »Weiß einer von euch, wo Gerander ist?«
    »Natürlich«, sagte Tibby Rose. »Es ist eine Provinz im Süden von –«
    »NEIN!«, unterbrach sie der Alte. Dann schloss er die Augen und holte tief Luft. Als er sie wieder öffnete, sagte er leise: »Nein. Gerander ist keine Provinz von Souris – es ist ein eigenständiges Land. War es zumindest ...«
    Er nahm seine Brille ab, putzte sie mit einer Ecke seiner Decke, als müsse er sich sammeln, dann fuhr er fort: »Wie viel wisst ihr von Gerander?«
    Tibby schüttelte den Kopf. »Großtante Harriet hat mir viel über Geschichte beigebracht, aber Gerander hat sie eigentlich nie erwähnt.«
    »Wir haben in der Schule kaum etwas über Gerander gelernt«, sagte Alistair achselzuckend. »Es ist nur als Teil von Souris erwähnt worden.«
    »Hrrmpff«, machte der Alte kaum vernehmbar. »Es stimmt, was man so hört: Geschichte wird von den Siegern geschrieben.«
    »Bitte?« Alistair verstand nicht.
    Der Alte lächelte grimmig. »Wenn es um Geschichte geht, gibt es so etwas wie ›die Wahrheit‹ nicht. Es gibt immer verschiedene Versionen. Während also die Leute aus Souris – und die aus Schetlock vielleicht auch – wirklich glauben, dass Gerander ein Teil von Souris ist, sehen die aus Gerander die Lage in einem ganz anderen Licht.«
    »Sind Sie denn aus Gerander?«, wollte Alistair nun wissen.
    »In der Tat«, sagte der Alte trotzig.
    »Kürzlich haben uns ein paar Mäuse, die hinter uns her waren, ›Rebellen aus Gerander‹ genannt«, berichtete ihm Alistair. »Was hatte das zu bedeuten?«
    »War das, ehe ihr euer Fell gefärbt habt?«
    »Ja.«
    Der Alte nickte bedächtig. »Verstehe. Nun, es ist an der Zeit, dass euch jemand über Gerander aufklärt: über die Wahrheit aus Sicht der Leute aus Gerander, sollte ich wohl sagen. Die Geschichte beginnt eigentlich vor einigen Generationen. Königin Cornolia – ich nehme an, ihr habt von ihr gehört?«
    »Ja«, sagten die beiden jungen Mäuse wie aus einem Mund.
    »Königin Cornolia war Königin Eugenias Ururgroßmutter«, sagte Tibby Rose. »Sie war vor langer Zeit Königin von Souris.«
    »Und sie war auch Königin von Schetlock«, ergänzte Alistair.
    Der Alte nickte. »Richtig. Aber zu Königin Cornolias Zeiten gab es Souris und Schetlock noch nicht. Es waren Teile eines großen Königreichs namens Groß-Gerander, und das wurde seit Urzeiten vom Haus Cornolius regiert. Doch das änderte sich, als Königin Cornolia auf dem Sterbebett lag. Sie hatte Drillinge, müsst ihr wissen, und da keiner der eindeutige Erbe war, teilte sie das Königreich in drei Gebiete auf – in die Länder, die wir jetzt Souris, Schetlock und Gerander nennen. Jedes bekam einen eigenen Herrscher. Jahrelang existierten die Länder mehr oder weniger harmonisch nebeneinander. Mehr oder weniger, sage ich, denn welche Geschwister streiten sich nicht bisweilen?«
    Alistair dachte an Alice und Alex und nickte.
    »Wie dem auch sei, vor vielen Jahren – als ich noch sehr jung war – gab es in Gerander ein Erdbeben. Ein schreckliches Erdbeben! Ganze Städte wurden von der Erde verschluckt, Tausende kamen ums Leben und es gab noch viel mehr Verletzte. Die Krankenhäuser, die verschont geblieben waren, konnten die zahlreichen Verletzten nicht versorgen. Und es gab nicht genug Zufluchtsstätten für diejenigen, die ihr Heim verloren hatten.«
    Er räusperte sich, und selbst in dem Dämmerlicht konnte Alistair sehen, dass seine Augen hinter der Brille feucht waren.
    »So, zu jener Zeit wurde Gerander von König Martain regiert, und er bat unseren nächsten und viel größeren Nachbarn Souris um Hilfe. Souris wurde von König Erandus regiert, dem Vater von Königin Eugenia. Erandus schickte seine Armee. Sie legte neue Straßen an und baute neue Häuser, reparierte das Abwassersystem und die Krankenhäuser und Schulen. Sie waren wahrhaftig unsere Retter. Aber als Gerander wieder ganz hergestellt war, weigerte sich die Armee von König Erandus, das Land zu verlassen! Erandus beharrte darauf, dass Martain die Hoheit über das Königreich Gerander dem Herrscher von Souris übertragen hatte, bis dort die Ordnung wiederhergestellt war – und das war seiner Ansicht nach noch nicht der Fall. Martain widersprach dieser Auslegung, aber sein Wort stand gegen das von Erandus – und Erandus war mit seiner riesigen Armee im Vorteil. Die Freunde, die einst unsere Retter gewesen waren, wurden zu unseren Besatzern. Und

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