Die Entfuehrung
Gedanken. War es tatsächlich möglich, dass er aus Gerander stammte? Das würde immerhin sein rotbraunes Fell erklären. Aber warum hatte es keiner in der Familie jemals erwähnt? Zu gefährlich vielleicht. Und obwohl ihm noch hundert Fragen im Kopf herumspukten und es mitten am Nachmittag war, schlief er ein.
Als er zwei Stunden später aufwachte, war der alte Gerandiner fort. Tibby stand unter der Tür des Schuppens und sah hinaus. Die Regenwolken hatten sich verzogen und die Sonne schien heiß.
»He, Tibby, wo ist Onkel Silas?«
Tibby drehte sich um. »Gut geschlafen, Murmeltier?« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich bin auch eingedöst, und als ich vor ein paar Minuten aufgewacht bin, war er schon weg.«
Alistair stand auf und klopfte sich den Schmutz vom Fell. »Was meinst du? Sollen wir noch ein Stück gehen, ehe die Sonne untergeht?«
»Klar«, sagte Tibby, und nachdem sie an dem Trog noch von dem kühlen, klaren Wasser getrunken hatten, machten sie sich auf den Weg. Sie wanderten jetzt auf einer kurvenreichen Straße am Rand der Eugenischen Bergkette entlang, die auf und ab führte und nur wenig Schatten bot. Es war beschwerlich, aber nach ihrem Abenteuer auf dem Fluss war Alistair doch froh, festen Boden unter den Füßen zu haben.
Unterwegs unterhielten sich er und Tibby über das, was der Alte ihnen erzählt hatte.
»Stell dir nur vor, wie es wäre, wenn dein Land überfallen würde wie Gerander«, sagte Alistair. »Es muss schrecklich sein, wenn einem das Zuhause einfach so weggenommen wird. Das Zuhause sollte doch ein Ort sein, an dem man sich sicher fühlt.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein schlimmes Unrecht«, erklärte er. »Ich weiß nicht, wie man es hat zulassen können.«
»Ich auch nicht«, stimmte ihm Tibby zu. »Aber es ist ein bisschen so wie das, was uns jetzt passiert, wenn man es recht bedenkt. Ich habe gedacht, Souris sei meine Heimat, aber wenn uns die Königlichen Wachen fangen, könnten sie uns wegsperren als gerandinische Spione, auch wenn wir gar nicht wussten, dass wir aus Gerander stammen. Und wir könnten überhaupt nichts dagegen unternehmen!« Dann fügte sie hinzu: »Aber Alistair, ist dir das auch schon aufgefallen: Wenn du rotbraun bist und ich rotbraun bin, dann bedeutet das doch, dass wir beide von dem rotbraunen Kind von Königin Cornolia abstammen. Dann sind wir doch entfernt verwandt, Vetter und Cousine oder so und – huch, was ist denn jetzt los?«
Ein Schatten war auf sie gefallen. Alistair blickte zum Himmel und erwartete, eine Wolke an der Sonne vorbeiziehen zu sehen. Zu seinem Schrecken schwebte jedoch ein riesiger Uhu über ihnen. Und zwar so nahe, dass Alistair seine Augen wie Glasperlen schimmern und den scharfen Schnabel vor Erwartung zittern sehen konnte. Er wusste, dass er laufen sollte, schreien sollte, aber als sei er in einem Albtraum erstarrt und im Erdboden verwurzelt, blieb ihm sein Warnruf im Halse stecken.
»Rotbraune Maus!«, krächzte der Uhu. »Rotbraune Maus!«
Dann stieß er auf die beiden herab.
15 DIE TAVERNE ZU DEN DREI SEGELN
A lice und Alex liefen die nächsten Stunden durch die Dunkelheit. Nur ab und zu blieben sie stehen, um zu horchen, ob ihnen jemand folgte. Aber es war nichts zu hören.
Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als die beiden erschöpften Mäuse an die Küste gelangten. Fischerboote mit ihrem Fang waren eingelaufen. Als sie den Stadtrand von Schambel erreichten, kamen ihnen zahlreiche Mäuse entgegen, die mit Kisten voller Fisch beladene Karren schoben und damit in die umliegenden Städte und Dörfer strömten. Sie näherten sich dem Hafen und konnten die Rufe der Standbesitzer auf dem Markt hören, der sich vom Hafen bis in die Straßen der Altstadt zog.
»Schambel-Schellfisch, hier zu haben! Austern und Miesmuscheln, Krebse und Krabben, Muscheln im Überfluss!«
»Freddies frischer Fisch! Kommt zu Freddie und deckt euch mit Fisch ein!«
Die Fischer hockten auf der Kaimauer, entwirrten oder flickten ihre Netze und beobachteten das Treiben auf demMarkt. Ladenbesitzer fegten die Bürgersteige und legten ihre Ware aus und Restaurants stellten Stühle und Tische unter gestreifte Markisen.
Alice und Alex liefen vorbei an der Menge von Frühaufstehern, die sich um die Stände drängten. Alice sah sich jede Markise und jedes Schild an, an dem sie vorbeikamen, und hielt Ausschau nach der Taverne Zu den drei Segeln .
Doch es war Alex, der sie entdeckte. »Dort!« In einer dunklen
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