Die Entfuehrung
Jahren. Sechs Jahre haben wir im Kerker auf der Insel Atticus verbracht. Dann wurden wir in ein Gefangenenlager in den Koller-Alpen an der Grenze zwischen Gerander und Souris verlegt.«
Der Alte schloss die Augen und schauderte, als ob die Erinnerung an die letzten zehn Jahre zu viel für ihn war.
»Vor fünf Tagen«, flüsterte er, »sind ein Dutzend von uns aus dem Lager in Koller entkommen. Ein Dutzend hat versucht zu entkommen, sollte ich lieber sagen. Nur sechs haben es geschafft.« Die Stimme des Alten war jetzt sehr leise. »Ich war einer der Glücklichen. Sansibar auch. Aber meine Frau ...« Er verstummte.
»Hol ihm vielleicht noch ein bisschen Wasser, Alistair«, schlug Tibby Rose leise vor.
Alistair nahm den Becher, der neben dem Knie des Alten stand, und eilte hinaus, um ihn an dem Trog neu zu füllen.
Als er zurückkehrte, sagte der Alte: »Unsere Kinder, die inzwischen erwachsen sind, sind überall verstreut, keine Ahnung, wo. Sie sind von ihren Großeltern aufgezogen worden, während ich und meine Frau für die FUG unterwegs waren. Ich kann nur hoffen, dass sie es verstehen ... Manchmal wiegen die Leiden vieler schwerer als diejenigen einiger weniger.«
»Ich bin sicher, dass sie es verstehen werden«, versicherte ihm Tibby Rose.
Alistair drückte dem Alten den Becher in die Hand und sagte: »Aber ich verstehe immer noch nicht, was es für eine Bedeutung hat, rotbraun zu sein.«
Der Alte nahm einen großen Schluck Wasser, dann erwiderte er: »Begreifst du denn nicht? Nur Mäuse aus Gerander sind rotbraun. Nicht jeder aus Gerander allerdings, aber es ist nicht ungewöhnlich. Der Drilling, der Gerander von Königin Cornolia erbte, war rotbraun, und seither gibt es in jeder Generation rotbraune Gerandiner.«
»Aber wir sind keine Gerandiner«, behauptete Alistair.
»Das meinst du.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Aber wenn ihr rotbraun seid, dann seid ihr Gerandiner. Anders ist es nicht möglich. Vielleicht sind eure Eltern oder deren Eltern Gerandiner.«
Alistair dachte an Onkel Ebenezers Geschichten von seinen Jugendabenteuern mit Rebus. Die hatten doch alle in Schetlock stattgefunden. Wie stand es mit der Herkunft seiner Mutter? Er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals darüber geredet hatte. Jetzt tat es ihm leid, dass er sie nie danach gefragt hatte.
»Das erklärt zumindest, warum uns die Kinder am Fluss in Tempelton Rebellen aus Gerander genannt haben«, sagte Tibby. »Und warum die Mäuse in der Stadt gedacht haben, wir könnten Spione sein.«
Der Alte fuhr sich erschöpft mit der Hand übers Gesicht. »Sie verbreiten gerne Hass, die Sourisaner«, sagte er.
»Warum sind Sie nach Souris gekommen?«, fragte Alistair. »Das muss doch schrecklich gefährlich sein.«
»Ich habe wichtige Kunde für die hiesigen FUG-Mitglieder«, erwiderte der Gerandiner knapp. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Es gibt FUG-Mitglieder in Souris?«, fragte Tibby Rose erstaunt.
»In Souris und auch in Schetlock«, erwiderte der Alte. »Jedes Land hat seine guten und schlechten Seiten. Es gibt auch Leute in Souris, die bestürzt sind, dass ihr Herrscher ein kleineres Land unterdrückt, und Leute in Schetlock, die sich schämen, dass sich ihre Regierung weigert einzugreifen. Es kann sogar sein«, fuhr er fort, »dass die Taktik von Schetlock, sich blind zu stellen, zu ihrem Verderben führt, wenn sie nicht aufpassen ...«
Zuerst verstand Alistair nicht, was Onkel Silas damit meinte, doch dann dämmerte es ihm. Ein Groß-Gerander würde bedeuten, dass es kein Schetlock mehr geben würde.
»Halten Sie es für möglich, dass Souris auch in Schetlock einfallen könnte?«
»Schlaues Bürschchen«, antwortete der Alte mit dem Hauch eines Lächelns. »Das ist die Frage, die sich meiner Ansicht nach alle Schetlocker stellen sollten. Wenn sie Gerander schon nicht um der Gerechtigkeit willen helfen wollen, sollten sie doch überlegen, ob sie uns helfen, um ihre eigene Haut zu retten.« Er holte tief Luft, dann fing er heftig zu husten an und schlang sich die Arme um die Brust. Es dauerte einige Minuten, ehe er wieder reden konnte.
»Sie sollten sich ausruhen«, sagte Tibby Rose sanft.
»Ich werde niemals ruhen, bis Sansibar König ist«, murmelte der Alte wie zu sich selbst. Dann sank er zusammen. »Aber du hast recht. Es liegt eine beschwerliche Reise vor mir und ich brauche meine Kraft.«
Er legte sich zurück und zog sich die zerlumpte Decke bis ans Kinn. Alistair legte sich ebenfalls hin, tief in
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