Die Entführung der Musik
bestand.
Der Gegenstand seiner knappen Beschreibung hielt sich untätig in einer Nische an der hinteren Wand eines Werkstattraumes auf und sog die geistgeschwängerte Atmosphäre in sich ein wie eine Eidechse Wärme auf einem heißen Stein. Als die drei sich näherten, vibrierte das aus funkelnden Partikeln zusammen gesetzte Etwas, denn einen Moment lang fing es das gedämpfte Licht auf und warf es zurück. Ein unheimlicher Schimmer, dachte Jon-Tom bei sich: eine schimmernde nichtvorhandene Existenz an der äußersten Grenze der visuellen Wahrnehmung, ein schwaches Phosphoreszieren nur, das so leicht ü- ber das dünne Eis der Linse glitt, daß die zuständigen Stäbchen und Zäpfchen der Netzhaut es kaum registrierten.
Wie der Schatten eines Nordlichts schwebte es vor ihnen. Dann schienen die Partikel kurz zu zucken und eine neue Position einzu- nehmen. Dabei erklang ein musikalischer Ton im Raum. Er war ange- nehm, klagend und flüchtig.
»Ich kann es nicht gut sehen«, erklärte Jon-Tom, »aber es ist schön. Was ist es?«
»Musik natürlich«, antwortete der Hexer. »Was dachtest du denn? Eine akustische Verbindung. Eine harmonische Konvergenz. Eine klangvolle Synchronität.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen. Den Ton habe ich gehört, aber das er- klärt mir noch nicht, was es eigentlich ist.«
»Ich habe es dir doch gerade gesagt, Junge. Es ist Musik.«
»Da laß ich mich doch zum Eunuchen machen!« rief Mudge aus.
»Ich 'ab bis'er mehr als genug Musik ge'ört, aber gese'en 'ab ich sie nie.« Mit großem Interesse betrachtete Jon-Tom das bauschige eiför- mige Gebilde, als es von neuem erklang. »Ich wußte nicht, daß man Musik tatsächlich sehen kann.«
»So direkt ist das normalerweise auch nicht möglich.« Clodsahamp blickte angestrengt durch die Brille. »Normalerweise müssen die Be- dingungen genau richtig sein. Und selbst dann ist es eine knifflige Angelegenheit, Musik wirklich sichtbar zu machen.«
Er tat einen Schritt nach vorn und streckte die kurze Hand aus. Der Schwarm von Partikeln zögerte und zog dann Kreise um Clodsahamps Finger und badete sie in Halbtönen. Wie Jon-Tom bemerkte, warfen die Partikel keinen Schatten.
»Es scheint Teil eines wesentlich größeren musikalischen Gedan- kens zu sein«, informierte sie der Hexer. »Ich habe mich ein wenig damit beschäftigt und festgestellt, daß es aus einer Zahl unveränderli- cher Akkorde besteht, die sich immer wieder neu ordnen.« Er grunzte.
»Musik ist nicht gerade das Gebiet, auf das ich mich spezialisiert ha- be.«
Jon-Tom kam näher heran. »Darf ich?«
»Aber gern.« Der Hexer trat zur Seite.
Die Partikel verließen Clodsahamps Finger und umschwärmten vor- sichtig Jon-Toms ausgestreckte Hand. Er spürte keinen körperlichen Kontakt, keinerlei taktile Empfindung. Nur die Ahnung eines warmen Kitzels, wenn die Töne sich periodisch aneinanderreihten und erklan- gen. Manchmal variierte das Tempo, manchmal die Lautstärke, doch die der Musik zugrunde liegenden Akkorde blieben immer dieselben.
Den Bannsänger erfüllte leise Ehrfurcht. »Ich habe auch zuvor schon Musik gespürt, aber noch nie in diesem wörtlichen Sinn.«
Die Partikel verließen seine Hand, trieben davon und schwebten nun auf halbem Wege zwischen Mensch und Schildkröterich. Dabei erklangen sie weiter in einem eindeutig klagenden Ton.
»Wo haben Sie es gefunden?«
»Gefunden? Ich habe nicht die Angewohnheit, nach verirrter Musik zu suchen, Junge. Es hat mich gefunden. Vor zwei Tagen bin ich von Ghorpuls unterdrückten Rufen aufgewacht. Irgendwie war es in den Studierraum im Atrium geschwebt und spielte mit einer Sammlung dekorativer Glocken, die Padula, die Klumpenhexe, mir vor etwa hun- dert Jahren geschenkt hat. Ich hatte den entschiedenen Eindruck, daß es versuchte, sich mit ihnen anzufreunden.«
»Musik schafft es eben, überall hinein zu kommen.« Noch immer war Jon-Tom von den wandernden Partikeln fasziniert.
Clodsahamp räusperte sich bedeutungsvoll. »Das mag sein, aber gegenüber Invasionsphänomenen habe ich ein tiefes Mißtrauen, wie süß oder traurig auch immer sie klingen mögen. Ich hieß Ghorpul, ei- nen Federstaubwedel nehmen, und gemeinsam versuchten wir, es zu verscheuchen, doch dann klang es so klagend, daß ich beschloß, es eine Zeitlang nicht zu beachten. Schaden scheint es nicht anzurichten, und auch meine Nahrungsmittelvorräte läßt es in Ruhe. Es schwebt einfach in dieser Nische herum und beobachtet - soweit man von Mu- sik sagen
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