Die Entführung der Musik
Musik«, bemerkte Invez. »Aber die Instrumente erken- ne ich nicht.«
Der nun zum Nachdenken gezwungene Dachs stieß einen ergebenen Seufzer aus und konzentrierte sich zum erstenmal mit mehr als allge- meiner Gleichgültigkeit aufs Zuhören.
»Carillonregister«, erklärte er schließlich. »Mit begleitendem Glo- ckenspiel. Sicher mehr als nur ein Instrument.«
»Einverstanden.« Invez schaute auf etwas zu seiner Linken. »Aber es sieht überhaupt nicht so aus.«
Unter dem kühlen Schatten seines breiten Schlapphutes runzelte Flagyr die Stirn. »Sieht aus? Du siehst, wer spielt?«
»Das ist es ja gerade. Ich sehe nicht, wer spielt. Ich sehe überhaupt niemanden.«
»Und was siehst du dann?«
»Die Musik«, erklärte Invez. »Musik habe ich bisher noch niemals wirklich gesehen.«
»Wovon sprichst du eigentlich?« Mühsam setzte der Dachs sich auf.
»Vorsicht«, warnte Invez. »Es ist jetzt sehr nahe, und gleich stößt du hinein.«
»Ähäm... stoßen? In was denn?« Im blendenden Licht des Flusses blinzelte Flagyr nun ernstlich verdattert, während seine Augen sich an die Helligkeit zu gewöhnen versuchten.
»Ich habe es dir doch gesagt: die Musik.«
Und da war sie, genau wie Invez es gesagt hatte. Flagyr starrte plötzlich mit weitgeöffneten Augen ein glitzerndes, durchscheinendes, leicht reflektierendes Bündel Musik an. Träge schwebte es auf knap- per Armlänge vor seinem Gesicht. Bei jedem Aufklingen explodierten golden schimmernde Flecken weich in der Luft und verschwanden wieder zusammen mit der Musik, so wie an einem kalten Morgen Ne- bel von einem See aufsteigt. Unter dem glotzäugigen Blick des Dach- ses läutete die rosafarbene Wolke mehrmals hintereinander.
Invez hatte recht. Es fehlt nicht nur der Spieler, auch von einem In- strument war weit und breit nichts zu sehen. Statt dessen war nur die Musik selbst vorhanden, rein und leuchtend erschallte sie eindringlich vor Invez' und Flagyrs erstaunten Gesichtern. Ob sie nun aus Partikeln bestand oder aus Tönen, wußte der Dachs nicht eindeutig zu sagen.
Die beiden konnten nicht ahnen, daß derartige lyrische Begegnun- gen sich in L'Bor, Lynchbany und an anderen Orten schon viele Male zuvor abgespielt hatten. Manche hörten die Musik nur, ohne sie tat- sächlich zu sehen. Doch anders als viele andere, denen eine solche Begegnung zuvor schon widerfahren war, wußte der Dachs genug, um eine mögliche Quelle zu vermuten.
»Irgendwo hier in der Nähe ist ein Hexer am Werk«, erklärte er ent- schieden. Sanft streckte er die Hand nach den dahintreibenden Tönen aus.
Wie glitzernde Mücken umschwirrten sie unter leisem Gesumm aufgeregt seinen forschenden Zeigefinger. Dann wichen sie zurück und bildeten wieder eine Wolke, die ihn mit einem streitbaren Arpeg- gio betrachtete.
Der Serval war jetzt auf den Beinen und spähte in den Wald. »Ich sehe niemanden.«
»Ein Witz«, brummte Flagyr. »Vielleicht ein Witz zur Übung. He- xer!« schnaubte er und lehnte sich wieder gegen seinen Baum.
»Jedenfalls scheint er harmlos zu sein.« Invez machte ein paar Schritte auf die Töne zu und blieb stehen, als sie ihn in einem eifrigen Allegro umschwirrten. Einen Augenblick später sprangen sie weg.
»Tempo und Lautstärke ändern sich«, bemerkte er, »doch die Me- lodie ist immer die gleiche. Es ist eine merkwürdige Art von Musik. Mir völlig unbekannt. Hätte ich doch nur ein wenig über Musik ge- lernt!«
»Das eine oder andere weiß ich.« Flagyr sah nicht auf.
Invez blickte seinen Freund überrascht an. »Das hast du nie er- wähnt.«
»Ich bin nicht gerade ein Profi«, brummte der Dachs. »Und es liegt mir nicht, mit etwas zu prahlen, das ich nicht besonders gut kann.« Dann zeigte er auf die leise läutende Musik. »Ich möchte wetten, daß mit dieser Tonfolge etwas nicht stimmt, und das meine ich nicht vom musikalischen Standpunkt aus betrachtet.«
»Was stimmt denn nicht?« Die Schnurrhaare des Serval zuckten.
Der Dachs schaute mit zusammengekniffenen Augen zu den zit- ternden Tönen hinauf. »Es klingt unvollendet, als würde etwas fehlen. Und zwar sowohl am Anfang als auch am Ende. Es ist nicht wie eine fertige Komposition, sondern eher wie ein Stück davon, das wie ein schlechter Zahn herausgerissen wurde.« Er zuckte die Schultern. »A- ber was weiß ich schon? Ist noch mehr da?«
Invez blickte angestrengt den Fluß hinauf und hinab. »Nein, nur die Töne, die ich sehe.«
»Ein unvollendetes, unfertiges Stück Musik.« Flagyr war sich
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