Die Entführung in der Mondscheingasse
halbwegs trocken sein.“
„Durch den Föhrenwald führt ein sehr
schöner Waldweg zur Schroffen-Wand. Dort ist allerdings Endstation. Es sei
denn, du willst einen halsbrecherischen Pfad hinaufturnen. Ist enorm steil.
Aber du kommst auf ein Plateau, von wo du übers Tal sehen kannst. Das Plateau
ist direkt neben dem Wasserfall.“
„Hört sich gut an, Sofie. Und wie weit
ist es bis zur Schroffen-Wand?“
„Drei Kilometer.“
„Sind hin und zurück sechs. Ist gerade
richtig. Zum Frühstück habe ich dann Durst auf drei Liter Fruchtsaft. Bis
gleich.“
Er eilte durch die Halle, wo noch
niemand war. In der Zirbelstube jaulte ein Staubsauger. Tarzan schnürte seine
Laufschuhe enger. Als er ins Freie trat, blies ihm kalter Wind ins Gesicht.
Aber das focht ihn nicht an. Es war jetzt endgültig Tag geworden. Im Osten, in
dem V-förmigen Spalt zwischen zwei Bergriesen, stand die Sonne und blitzte
gewaltig.
Er schloß den Reißverschluß seiner
Trainingsjacke bis zum Kinn. Im leichten Trab überquerte er den Vorplatz. Ein
geschnitztes Schild wies den Weg.
Anfangs atmete er durch die Nase ein
und aus durch den Mund. Damit vermied er, daß die kalte Morgenluft ungewärmt in
die Lunge drang. Erst wenn die Atemwege sich an die Kühle gewöhnt haben, soll
der Langstreckenläufer durch den Mund einatmen — frühestens nach zehn Minuten.
Der Weg war etwas steinig und führte
leicht bergan. Tarzan erhöhte das Tempo. Es machte Spaß. Hindernisse nahm er
mit mächtigen Sprüngen. Schon nach kurzer Zeit erreichte er den Föhrenwald, in
dem es schattig und noch kühler war. Um diese Zeit schien es ein Zauberwald zu
sein. Unwirkliches Licht waberte zwischen den Bäumen. Die Föhren standen still
wie Gestalten. Der Weg war mit braunen Nadeln bedeckt, aber eben und ohne
Steine.
Es war herrlich, hier zu laufen, die
Stille vollkommen. Nur der Wind säuselte. Und Tarzan legte den ersten Sprint
ein. Der Waldboden bebte. Viel schneller als erwartet, erreichte er die
Schroffen-Wand.
Hier konnte von Stille keine Rede sein.
Der Wasserfall toste. Etwa 150 Meter über der Talsohle stürzte Gletscherwasser
aus einer Felsrinne und dann — im freien Fall — herab in ein steiniges Becken,
wo der — verhältnismäßig dünne — Strahl einen Nebel von Gischt erzeugte. Dort
wallte es und dampfte es, und die Tropfen spritzten enorm hoch. Als Flüßchen
machte sich dann das Gletscherwasser auf die weitere Reise. Wo die endete,
wußte Tarzan nicht. Vielleicht in einem der großen Flüsse oder in einer
Talsperre.
Senkrecht ragte die Schroffen-Wand auf:
nackter Fels. Aber in 200 Meter Höhe stufte sich die Kante nach hinten ab. Dort
war das Plateau. Rechts neben der Wand wich der Berg zurück. Sanfter stieg dort
der Hang an, aber immer noch steil genug, um einen Kurzatmigen an den Rand des
Erstickens zu bringen — so er den Aufstieg wagte. Ein Pfad schlängelte sich
hinauf und verschwand hinter der Kante der Schroffen-Wand.
Das packe ich, dachte Tarzan.
Leichtfüßig federte er den Pfad hinauf. Der war schmal und an manchen Stellen
zur Rinne zerschlissen, ausgewaschen von Regen, Schmelzwasser und Schnee.
Wurzeln legten Fußangeln. Spitze Steine hatten sich als Schikanen eingebaut.
Aber Tarzan ließ sich nicht beirren. Es wurde steil und steiler. Die Zweige
karger Büsche, die zu beiden Seiten wuchsen, berührten seine Arme. Angewinkelt
schwang er sie mit im Rhythmus der Schritte. Nach zwei Drittel der Strecke
keuchte er, und der Schweiß floß ihm über Brust und Schultern. Trotzdem war es
herrlich. Und die Beinmuskeln machten noch lange nicht schlapp.
Jetzt führte der Pfad nach links. Ein
letzter Spurt, und er stand auf dem Plateau.
Er hielt inne. Hinter ihm stieg der
Berg weiter an, steil, aber nicht so senkrecht wie die Schroffen-Wand. Das
Plateau war völlig waagerecht wie die Trittfläche einer Stufe. Der Platz hier
hätte gereicht für ein Picknick von 17 Leuten — vielleicht auch von 18, falls
keine Dicken dabei waren. Aber schwindelfrei mußten sie sein. Denn vorn an der
Kante...
Tarzan schob den Kopf vor und spähte
hinunter.
Ein Abgrund. Dort war die Talsohle, wo
er eben gestanden hatte. Aus der Vogelsicht war der Föhrenwald von zartem Grün.
Deutlich sah er, wie der Waldweg an den Bäumen entlang führte. Und weiter
reichte der Blick über den oberen Teil des Enge-Tals. Vom tiefer gelegenen Tyroler
Hof sah er freilich nur den Rauch der Kamine.
Rechts von ihm stürzte das
Gletscherwasser in die Tiefe.
Er wandte sich
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