Die Entfuehrung
wundere dich nicht, wenn er daraus Kapital schlägt.«
»Merkwürdig. Das gleiche hat David Wilcox auch gesagt.«
»Und du bist anderer Meinung?«
Sie sah in den Spiegel über ihrer Kommode und musste daran denken, wie ihr Gegner die Diskussion über Ehebruch losgetreten hatte. »Nach der Debatte im Fox Theatre«, sagte sie verbittert, »überrascht mich gar nichts mehr.«
Die Fotografen versuchten, einen Blick durch die Fenster zu werfen, als die Limousine des Generals vom Haus wegfuhr. Lincoln Howe nahm keine Notiz vom Medienpulk, sondern saß allein und in Gedanken versunken auf dem Rücksitz. Was seine Tochter gesagt hatte, war gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Er hatte tatsächlich Prioritäten gesetzt. Der Dschungel von Vietnam war ihm wichtiger gewesen als die Geburt seines Sohnes. Korea war ihm wichtiger gewesen als Tanyas Auftritte im Schultheater und wichtiger als ihre Klavierdarbietungen. Und jetzt dies.
Einige Minuten lang fuhren sie auf der Schnellstraße, dann blickte er aus dem Fenster. Sie überquerten den Fluss. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter, als er sich vergegenwärtigte, dass gerade jetzt im Moment Taucher in den trüben Fluten fischten und nach allem tasteten, was sich wie eine Leiche anfühlte.
Plötzlich wurde ihm übel. Er beugte sich vor und klopfte an die Scheibe, die ihn vom Fahrer und dem Agenten des Secret Service auf dem Vordersitz trennte. Die Scheibe öffnete sich.
»Ich möchte, dass Sie anhalten«, sagte er.
Der Fahrer sah ihn im Rückspiegel an. »Aber Ihr Flugzeug, Sir.«
»Das ist mir egal. Fahren Sie hier raus.«
General Howe dirigierte sie aus der Innenstadt hinaus zur Fisk University und in die Gegend, wo Kristen entführt worden war. Er atmete mehrmals tief durch, als sie an der Martin Luther King Jr. High-School vorbeikamen, das Ziel, das sie nicht mehr erreicht hatte. Hölzerne Barrikaden und gelbes Absperrband verhinderten den Zugang zur Seventeenth Avenue, ihrem üblichen Schulweg.
»Halten Sie hier an«, sagte Howe.
Die Limousine blieb parallel zu der vorübergehend gesperrten Seventeenth Avenue auf der Kreuzung stehen. Die Beleuchtung war schwach, aber mit einiger Mühe konnte der General die gesamte Straße direkt bis zur Fisk University einsehen. FBI-Leute und andere Polizisten schritten das Gelände langsam auf der Suche nach Beweismitteln ab. Taschenlampen geisterten umher wie aufgeregte Glühwürmchen. Spürhunde der K-9-Einheit liefen im Zickzack beide Seiten der Straße entlang. Hoch oben war das Dröhnen der Hubschrauber zu hören, die das Gebiet mit Infrarotsensoren absuchten, mit denen sich in der Dunkelheit Körperwärme aufspüren ließ. Dem General erschien das genauso sinnlos wie der Einsatz der »Urinschnüffler« damals in Vietnam. Mit diesen High-Tech-Sensoren konnte man Exkremente aufspüren, so dass amerikanische Bomber punktgenau den Feind hatten orten und vernichten können - oder unglückselige Gruppen umherziehender Landarbeiter und stinkende Herden von Wasserbüffeln.
Beklommen beobachtete er vom Rücksitz seiner Limousine aus die Szenerie, das Bild der zwölfjährigen Kristen deutlich vor Augen. Wer konnte so etwas tun? fragte er sich. Natürlich hatte ein Mann in seiner Position Feinde. Manche seiner Entscheidungen hatten vielversprechenden militärischen Karrieren ein Ende bereitet. Viele seiner Befehle hatten zum Tod von Soldaten geführt. Außerdem war es nicht auszuschließen, dass irgendwelchen Verrückten ganz einfach sein Gesicht nicht passte.
Ein FBI-Agent klopfte an die Windschutzscheibe. Der Fahrer öffnete das Fenster.
»Sie können hier nicht parken.«
Der Fahrer wollte schon protestieren, aber Howe mischte sich ein. »Ist schon gut«, sagte er zu ihm, »wir fahren weiter. «
Ein Verkehrspolizist wies ihnen den Weg zu einer Nebenstraße. Schweigend fuhren sie einige Blocks weiter, bis sie die Fisk University erreicht hatten.
»Halten Sie hier an«, sagte Howe
Der Fahrer hielt neben der Fisk Memorial Chapel. Howe sah hinaus. Das alte Backsteingebäude mit seinem hohen zentralen Glockenturm und seinen im gotischen Stil gemauerten Fenstern wirkte imposant im Mondlicht.
»Ich möchte aussteigen.«
Der Agent des Secret Service reagierte verwundert. »Hier?«
Howe nickte. »Ich möchte beten«, sagte er mit einem Kloß im Hals. »Für meine Enkelin.«
Der Agent seufzte, wagte aber nicht zu widersprechen. Er machte Meldung über sein Funkgerät. »Hier Bravo Eins. Kurzer Aufenthalt am Fisk-Campus.
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