Die Entfuehrung
fällt mir nichts ein. Der Justizminister erhält die übliche Flut an bizarren Anrufen und Drohbriefen von Verrückten im ganzen Land, und alle werden vom FBI überprüft.«
»Ich werde jemanden beauftragen, die Akten zu beschaffen. Vielleicht muss ich ein bisschen mehr in die Tiefe gehen. Ich würde gerne ein Profil des Entführers Ihrer Tochter erstellen und dieses mit dem Profil vergleichen, das ich vom Entführer von Kristen Howe erstellt habe. Dazu müsste ich einige Details erfahren, die Sie wahrscheinlich in Ihrem Verarbeitungsprozess verdrängt haben. Ich weiß, dass es spät ist, und es widerstrebt mir, in alten Wunden zu wühlen, aber können wir dennoch darüber sprechen?«
Sie atmete tief ein, dann lächelte sie traurig. »Vielleicht sollte ich noch eine Kanne Kaffee aufsetzen.« Sie machte sich auf den Weg in die Küche, wandte sich aber noch einmal um. Ihre Miene war sorgenvoll, eine Mischung aus Befürchtungen und Neugier. »Es muss doch irgend etwas geben, das Sie eine Verbindung zwischen Emilys und dieser Entführung vermuten lässt.«
Harley verzog das Gesicht. Aber es wirkte nicht so, als wollte er irgend etwas zurückhalten. Vielmehr schien er Schwierigkeiten zu haben, es auszudrücken. »Ich glaube, es ist in erster Linie ein Gefühl«, sagte er schließlich. »Nicht irgend so ein dämlicher Tick wie bei den Leuten, die hoffen, im Lotto sechs Richtige zu gewinnen. Es ist ein Instinkt, der von der Erfahrung her kommt.«
»Und was sagt Ihnen Ihre Erfahrung?«
»Emilys Entführung war sehr ungewöhnlich. Es gibt nicht viele Fälle, in denen ein total Fremder in ein Haus einsteigt und ein Kleinkind direkt aus dem Kinderbett holt. Der Entführer ist ein hohes Risiko eingegangen, und er hat sich mit der Aufnahme von Emilys Stimme und all diesen Dingen einen Haufen Mühe gemacht. Ein derart ausgefeiltes Schema lässt darauf schließen, dass derjenige es nicht auf das Baby abgesehen hatte. In Wirklichkeit ging es darum, Sie zu treffen.«
Allison überkam ein Schauer. »Wie passt die Entführung von Kristen Howe in dieses Schema?«
»Das ist jetzt ein Gedankensprung, aber vielleicht ist er gar nicht so groß. Oberflächlich betrachtet, ist man in Versuchung, aus dem Vormarsch des Generals in den Umfragen seit der Entführung den Schluss zu ziehen, dass die Entführer Lincoln Howe helfen wollen, die Wahl zu gewinnen. Aber möglicherweise ist das ganz und gar nicht ihr wahres Motiv. In Wirklichkeit wollen sie, dass Allison Leahy die Wahl verliert. Wieder einmal sollen Sie getroffen werden.« Allison erstarrte. »Aber warum?«
»Je mehr Sie mir erzählen können, desto eher werden wir das herausfinden.« Er sah auf ihre leere Tasse. »Aber noch ein bisschen Kaffee ist eine ausgezeichnete Idee.«
»Ich bin mittlerweile immun gegen Koffein«, sagte sie und warf ihm einen Blick zu, der ihm die Luft nahm. »Das waren acht lange Jahre, Harley. Jede Nacht ist eine sehr lange Nacht.«
21
Das Messer mit Titanklinge schoss durch die Luft und blieb mit einem kurzen Aufprall in der Gipskartonwand stecken
Tony Delgado ging quer durch das Wohnzimmer, um den Schaden zu begutachten. Mit einem schwarzen Filzstift gezogene konzentrische Kreise bedeckten die ganze Wand. Sie sah aus wie eine behelfsmäßige Dartscheibe und war übersät von zwei Zentimeter breiten Einstichen, die meisten nur wenige Zentimeter neben dem Zentrum der Zielscheibe.
»Gut gezielt«, sagte Tony zu seinem jüngeren Bruder. Er zog das Messer aus der Wand.
Repo saß aufrecht auf der Couch und brütete vor sich hin. Tony kippte den Rest von seinem Budweiser hinunter und öffnete den Kühlschrank. Der Zwölferkarton, den sein Bruder aus Philadelphia mitgebracht hatte, war alle. »Repo«, rief er. »Du bist dran mit Bierholen.«
»Ich trinke überhaupt nicht.«
Tony gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Sieh mal, du hast Reggie Miles nicht kaltgemacht. Aber trotzdem hängen wir hier zusammen drin.«
Die Delgado-Brüder mussten beide lachen.
Repo erhob sich grummelnd von der Couch. »Ihr beide seid mir ja ein paar Scherzkekse.«
»Nimm's nicht so schwer«, sagte Tony.
Repo wandte sich ihm zu. »Das ist deine Antwort auf alles und jedes. Immer, wenn ihr beiden Arschlöcher mal wieder den Plan ändert, soll ich mitziehen. Also, das alles war nicht abgemacht. Es sollte keine Toten geben, und von Lösegeld war auch nicht die Rede. Unsere einzige Aufgabe war, das Mädchen bis nach den Wahlen festzuhalten.«
»Stimmt, das
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