Die Entfuehrung
Treppenabsatz blieb er stehen und leuchtete vor sich nach unten. Rissiges Linoleum lag auf dem nackten Betonboden. Entlang der Scheuerleisten hatte es sich gewölbt, wo Feuchtigkeit von außen eingedrungen war. An den Ecken bildeten sich Schimmelflecken. Die Wände waren mit verzogenen alten Holzpaneelen verkleidet, so als hätte irgendein früherer Eigentümer einen halbherzigen Versuch unternommen, dem Keller ein wohnliches Aussehen zu verleihen. Das kleine Kellerfenster oben über dem Waschbecken war verbreitert.
Repo tastete nach der Lampe hinter der Kellerbar. Er schaltete sie ein und die Taschenlampe aus.
Im schwachen Dämmerlicht sah er Kristen, die unter einer alten Armeedecke ausgestreckt auf der dünnen Matratze des Ausziehsofas lag. Eine Hand und ein Fuß waren mit Handschellen an jeweils ein Ende des Sofas gefesselt. Eine schwarze Binde bedeckte ihre Augen, und ihr Mund war mit einem breiten Streifen aus grauem Isolierband zugeklebt.
Als sie merkte, dass noch jemand im Raum war, spannte sich ihr Körper an.
Repo näherte sich langsam, um sie nicht zu erschrecken, und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Er beugte sich vor und flüsterte: »Ich nehme dir jetzt die Augenbinde ab.«
Sie bewegte sich nicht.
Er griff hinter ihren Kopf und löste die Binde. Mit einem sanften Ruck zog er sie unter dem Kissen hervor. Ihre langen Wimpern flatterten. Selbst der schwache Schein der Kellerbeleuchtung schien ihren noch weit geöffneten Pupillen weh zu tun. Repo sah zu, wie sie versuchte, ihre großen braunen Augen an die Umgebung zu gewöhnen. Wie ein schlafender Engel, der aus einem Alptraum erwacht, dachte Repo. Schließlich sah sie ihn an.
Zuerst wirkte sie verwirrt, als hätte sie die Skimaske erwartet. Sie sah immer noch ängstlich aus, aber weniger als vorher.
»Ich will dir nicht weh tun«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Und wenn du dir helfen lässt, wird dir auch kein anderer weh tun.«
Es war schon nach 3:00 Uhr morgens, als Allison Harley Abrams schließlich verabschiedete. Sie ging nach oben, zog sich schnell aus und kroch zu Peter ins Bett. Er schlief fest.
Sie lag auf dem Rücken, und ihr Kopf sank tief in das weiche Kissen. Sie war körperlich erschöpft, aber ihr Geist war noch wach. Sie musste sich sogar darauf konzentrieren, die Augen geschlossen zu halten. Sie öffneten sich unwillkürlich, und als sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, begann die vertraute Umgebung, Formen anzunehmen.
Sie sah zu Peter hinüber. Sein Profil war kaum sichtbar, und sie wusste nicht, ob sie es wirklich sah oder ob sie sich nur daran erinnerte. Sie konnte sich gut an Einzelheiten bei Menschen erinnern - die Form der Augen, der Schwung der Wangen. Es war eine erworbene Fähigkeit, etwas, womit sie sich beschäftigt hatte, seit Emily verschwunden war. Das Gedächtnis wird schärfer, wenn nur noch die Erinnerung bleibt.
Erinnerung war jedoch ein zweischneidiges Schwert. Das vierstündige Gespräch mit Harley Abrams über Emily hatte ihr wieder all die schlimmen Tage und die schlaflosen Nächte ins Bewusstsein gebracht. Sie legte ihr Extrakissen über ihre Augen und packte ihren Kopf ganz in weiche Gänsedaunen ein. Innerhalb von Minuten hatte sie das Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Ihre einzige Verbindung zur Nacht war die Luft, die sie atmete. Ihre Augäpfel bewegten sich unter dem Gewicht des Kissens. Sie sah nichts, aber die Leere vor ihr verwandelte sich in weißes Licht. Als sie langsam einschlummerte, nahm das Weiß Gestalt an. Ein weißes Gebäude. Eine weiße Tür. Weiße Säulen. Das Weiße Haus...
Allison schloss die schwere Eingangstür am Nordportiko und betrat das Foyer hinter dem offiziellen Haupteingang. So hatte sie das Staatsparkett noch nie gesehen. Dunkel und ruhig. Sie betätigte den Lichtschalter an der Wand, und der Kronleuchter über der großen Freitreppe verbreitete sein Licht. Sie ging zum Treppenabsatz und rief zaghaft: »Hallo?«
Statt einer Antwort hörte sie nur ihr eigenes Echo. Es lief ihr kalt den Rücken herunter, als ihr klarwurde, dass sie zu Hause war. Das war ihr Zuhause. Und sie war ganz allein.
Sie ging die Treppe hinauf zur Chefetage und zu den weiter oben liegenden Wohnräumen. Auf halbem Wege hörte sie ein Geräusch. Sie lauschte einen Moment, dann stieg sie eilig die Treppe hinauf.
Ein langer Flur erstreckte sich zu beiden Seiten, nach Osten und nach Westen. Kristallene Wandleuchter verbreiteten gerade so viel Licht, dass man den
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