Die Entscheidung
Tchort aussah, doch da es seine Idee gewesen war, sie hier zu treffen, sollte er gefälligst nach ihr Ausschau halten.
In der zweiten Etage dünnten sich die Gänge mehr und mehr aus. Blanche ging immer weiter, ohne Ziel, und ohne zu wissen, wohin der Korridor führte. Schließlich blieb sie vor einem riesigen Gemälde aus dem zwölften Jahrhundert stehen, das einen Ritter zeigte. Er trug eine rußfarbene Rüstung und saß bolzengerade auf einem rotäugigen Hengst, dessen schweißnasses Fell im Mondlicht glänzte. Blanche verengte die Augen zu Schlitzen. Kein Scherz, die Iris des Gauls waren scharlachrot und standen in krassem Kontrast zu seinem pechschwarzen Fell. Sie trat einen Schritt zurück, um das ganze Bild zu betrachten. Alles in allem war es ziemlich düster. Im Hintergrund tobte eine Schlacht, die sich schemenhaft aus ihrer dunklen Umgebung hervorhob. Der Boden war von leblosen Körpern übersät, Feuer flammte hier und da auf, doch über allem lag eine bleierne Finsternis, die von dem Reiter auf dem Pferd auszugehen schien. Die Rüstung bedeckte seinen ganzen Körper, beide Hände steckten in metallbeschlagenen Handschuhen. Er trug einen Helm, doch das Visier war hochgeklappt.
Blanches Blick wanderte über das Gesicht des Mannes. Sie schluckte, trat wieder auf das Bild zu und schluckte abermals. Langsam zog sie das Foto aus der Manteltasche und hielt den Atem an.
Heilige Scheiße.
„Das Gemälde stammt von Manuel Jose da la Cruz, ein ausgezeichneter Maler, findest du nicht?“
Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Es bestand kein Zweifel, zu wem die dunkle Stimme gehörte, dennoch drehte sie sich nicht um. Stattdessen nahm sie einen tiefen Atemzug.
„Hast du ihn gekannt?“
„Selbstverständlich, er war mein Freund“, sagte Tchort, und sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. Unwillkürlich tastete sie nach ihren Waffen, von denen sie wusste, dass sie in einem verfluchten Schließfach lagen. Nicht, dass sie sich von ihrem Vater bedroht fühlte. Es war mehr die Unsicherheit, die mit dem Treffen einherging. Sie war nicht gut in diesen Beziehungskisten, mit Waffen dagegen kannte sie sich aus. Falls Tchort ihre Bewegung bemerkte, verzichtete er auf einen Kommentar, denn er fuhr im Plauderton fort:
„Zu seiner Zeit gehörte er zu den gefragtesten Künstlern. Damals stand allerdings die Freskenmalerei im Vordergrund. Portraits konnten sich nur die Reichen leisten, und natürlich hochrangige Kleriker, darum spielte sich zu jener Zeit die Kunst in den Kirchen ab.“
„Faszinierend“, murmelte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Allerdings war sie nicht wegen Nachhilfe in Sachen Kunstgeschichte hier.
Tchorts leises Lachen jagte kleine Schauer durch ihren Körper, und endlich wandte sie den Kopf, um ihn anzusehen. Er war älter als auf dem Ölgemälde, was angesichts der neunhundert Jahre Differenz nicht anders zu erwarten war. Dennoch sah er nicht alt aus. Wie Beliar war seine Haut vollständig vernarbt, wobei seine Narben nicht so hervorstachen wie die ihres Dämons. Die tief liegenden Augen strahlten wie sein Lachen eine überraschende Wärme aus, zwei Goldtopase, die sein einziges Kind in sich aufnahmen. Er war etwas größer als sie, was bedeutete, dass er knapp eins siebzig sein musste. In seinem Antlitz vereinten sich sowohl slawische als auch orientalische Züge. Um die hohen Wangenknochen beneidete sie ihn, nicht um das kantige Kinn oder die Hakennase. Zumindest wusste sie jetzt, woher sie ihre blasse Haut und das pechschwarze Haar hatte. Seines war von silbrigen Fäden durchzogen, was ihn interessanterweise nicht alt, sondern sexy aussehen ließ. Wie seltsam.
Während sie ihn anstarrte, ergriff er ihre Hand, und drückte sie leicht. Sie war warm, nicht kalt, wie sie vermutet hatte. Blanche schluckte einen Kloß hinunter. Das hier war so was von surreal. Hier stand sie, mit Tchort, dem Schwarzen Gott – ihrem Vater. Auf den ersten Blick wirkte er unscheinbar, auf den zweiten Furcht einflößend. Nicht, dass er ihr Angst einjagte, es war vielmehr das, was er ausstrahlte.
Tiefschwarze Finsternis umgab ihn wie einen Mantel, den er sich um die Schultern gelegt hatte. Er atmete sie ein, strömte sie aus, sodass sie nach und nach den ganzen Raum einnahm. Beliar benutzte diesen Trick, um seine Opfer zu beeindrucken, die sich bei dieser Nummer üblicherweise in die Hosen machten.
Bei Tchort war sie sich nicht sicher, ob er nicht anders konnte. Ob die Dunkelheit ihn bereits so
Weitere Kostenlose Bücher