Die Entscheidung
gekostet. War Tchort deswegen so angespannt? Blöde Frage.
Etwas verspätet setzte ihr Mitgefühl ein, und ihre Eingeweide krampften sich zusammen. Verfluchter Mist, hier ging es nicht um irgendwen, sondern um ihre Mutter. Sie atmete tief durch, doch die Distanz blieb. Es war schwierig, ein Gefühl zu jemandem heraufzubeschwören, den sie nie kennengelernt hatte. Vielleicht war es in diesem Fall besser so, denn Emotionen konnten einem den Verstand vernebeln, und gerade den brauchte sie im Moment so dringend wie einen doppelten Espresso.
Also schön. Wie es aussah, wusste Tchort, dass es Ithuriel momentan nicht gerade gut ging. Aber wie zur Hölle wollte er das ändern?
„Du …“ Abermals blieb sie stehen und wandte sich ihm zu. „Du willst sie befreien?“
Darauf nickte er, ein kurzes Neigen seines Kopfes, mehr nicht. Doch für Ithuriel bedeutete es so viel mehr. Tchort hatte vor, ein Höllentor zu öffnen, um seine geliebte Frau vor seinem ehemaligen Brötchengeber zu retten. Wenn das keine Herausforderung war.
„Du, äh, willst da nicht allein hin, oder?“
Mehr Nicken. „Ich muss, mein Kind.“ Er bedeckte ihre Wange mit der freien Hand und seufzte. „Du hast ihre Augen, weißt du das?“
Und da war es endlich, das Gefühl. Der Schmerz seiner Stimme bohrte sich wie ein Pfeil in ihr Herz. Bei Gott, er hatte diese Frau geliebt, liebte sie vermutlich immer noch.
„Kann ich irgendwie helfen?“
„Das kannst du in der Tat“, sagte er, trat vor und küsste ihre Stirn. Ihr Herz machte einen Satz, diese Geste war so … väterlich. Jetzt wusste sie erst recht nicht, wohin sie blicken sollte, doch er nahm ihr die Entscheidung ab. Daumen und Zeigefinger schlossen sich um ihr Kinn, und drehten ihren Kopf in seine Richtung, zwangen sie, ihn anzusehen.
Ganz ehrlich: Jeder andere hätte sich von seinen Flossen verabschieden können, doch dies war, nun ja, ihr Vater. Ein weiterer Stich durchfuhr sie. War sie Wayne gegenüber illoyal, wenn sie so dachte? Denn mal ehrlich, während Tchort mit sich selbst beschäftigt war, hatte Wayne sie unter seine Fittiche genommen. Er war ihr mehr Vater gewesen als der Fremde vor ihr. Und doch. Sie spürte diese absurde Verbindung, die sie nicht in Worte fassen konnte.
„Und, ähm, was genau wäre das?“, würgte sie hervor, um den Faden wieder aufzunehmen. Ihre Gefühle mussten warten.
Fokussieren!
Der Gedanke half ihr, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, und die unerwünschten Emotionen in den Hintergrund zu drängen.
Ganz wie in alten Zeiten, dachte sie und atmete tief durch.
„Hast du schon mal von einem Machtzirkel gehört?“, fragte er, fädelte ihren Arm durch seinen, und schlenderte mit ihr den Gang entlang, als wären sie zwei Kunstliebhaber, die über unterschiedliche Malepochen sinnierten. Nicht Vater und Tochter, die laut darüber nachdachten, in die Hölle einzusteigen, um dem Teufel eine Abreibung zu verpassen.
„Ja“, sagte sie leise. Miceal hatte ihn einmal erwähnt, aber zu der Zeit interessierte sie dieser Kram nicht die Bohne. Sie hatte anderes zu tun gehabt.
„Und was genau weißt du darüber?“
„Nur, dass man mit seiner Hilfe Saetan stürzen kann.“
Tchort nickte, darum fuhr sie nach kurzem Zögern fort.
„Die Zirkelbilder müssen jeweils eine der vier Himmelsrichtungen repräsentieren, wie das genau funktioniert, weiß ich allerdings nicht.“
„Damit bist du besser informiert als die meisten anderen.“
Wieder blieb er stehen und strich ihr eine verirrte Strähne hinters Ohr. Es kam ihr vor, als suchte er nach Gründen, sie zu berühren. Sie konnte es ihm nicht verübeln, sie würde ihn selbst gern anfassen, doch dazu fehlte ihr der Mut.
Das hier wäre ein Fressen für Leo. Blanche, das herzlose Miststück, vor dem die halbe Stadt zitterte, hatte Angst, ihren Vater zu berühren. Sie wollte es, sehr sogar, brachte es jedoch nicht über sich. Was, wenn ihre Gefühle das Ruder übernahmen, und sie plötzlich losflennte? Sie und ihre Emotionen hatten eine lange, leidige Geschichte, nämlich die, sich gegenseitig zu ignorieren. Warum jetzt mit Traditionen brechen?
„Du könntest uns eine große Hilfe sein, mein Kind, aber ich möchte, dass es deine Entscheidung ist.“
Mit uns meinte er vermutlich Ithuriel und ihn. Oder war da noch jemand? Sie schob den Gedanken an Beliar zur Seite und hakte sich wieder bei Tchort ein. Dabei fiel ihr auf, wie still es mit einem Mal geworden war. Wohin waren all die Menschen verschwunden?
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