Die Entscheidung
meine Klamotten zu holen?“
Wieder nickte er. „Aber du musst dich beeilen.“
Blanche seufzte und hob die Hand zum Abschied. Sie glaubte, ihn „gern geschehen“ flüstern zu hören, war sich jedoch nicht sicher. Zurückblicken konnte sie nicht, das hätte ihren Abgang vermurkst.
*
Nella hatte sich auf der Couch zu einem Ball zusammengerollt, während sie sich eine mexikanische Serie ansah, deren Inhalt sie nur vage verstand. Im Kern ging es um ein Mädchen namens Betty, das sich vom hässlichen Entchen in einen schönen Schwan verwandelte – leider erst nach zweiundzwanzig Episoden. Manchmal wünschte Nella, dass sich die Dinge schneller entwickelten. Warum musste Betty mehr als zwanzig Folgen warten, bis sie sich als betörende Schönheit entpuppte, wenn sie in Wahrheit die ganze Zeit umwerfend war? Wozu war es nötig, sie über Wochen und Monate leiden zu lassen? Wussten die Produzenten nicht, wie sehr es schmerzte, wenn Menschen auf einem rumtrampelten, und man zum Gespött von Freunden und Kollegen wurde? Wenn einem niemand Respekt zollte, und das nur, weil man nicht deren Vorstellungen entsprach?
Nella setzte sich auf und knipste den Fernseher aus. Vielleicht war sie anders, aber war das wirklich so schlimm? Blanche war auch anders, aber niemand wagte es, sie zu beleidigen, denn ihre Freundin hatte einen Ruf … genau wie sie.
Nella ließ die Schultern hängen und zog das Plaid enger um ihren Körper.
Warum musste Veränderung so lange dauern? Wieso konnte sie ihre Unsicherheit nicht überwinden, und all denen die Meinung sagen, die sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machten? Dabei war es ihre eigene Schuld, dass sie über sie tuschelten, sie musste endlich anfangen, sich zu wehren. Nur wie? In ihrer Zeit als Bordsteinschwalbe hatte sie Möglichkeiten gehabt, die sie hier nicht einsetzen konnte, ohne Enzo zu blamieren. Da wäre zum einen ihr Mundwerk, das mehr Schimpfworte auf Lager hatte als ein Wörterbuch. Außerdem kannte sie ein paar Tritte und Schläge, um sich gegen Grobiane zur Wehr zu setzen. Seit einigen Wochen trainierte Ernesto sie in Selbstverteidigung, sodass sie durchaus in der Lage war, Angreifern Paroli zu bieten. Doch sie konnte Enzos Sohn und seine erbärmlichen Freunde schlecht vermöbeln. Es würde auch nicht gut aussehen, wenn sie Enzos Männer durch einen gezielten Tritt vom Bariton zum Sopran beförderte. Argumentieren konnte sie ebenfalls nicht, ohne ihre Herkunft preiszugeben – die Straße. So oder so würde sie Enzo Schande bereiten, und das war etwas, das sie nicht ertragen konnte. Er durfte sich ihrer nicht schämen, auch wenn er derzeit andere Sorgen hatte. Gerade weil er so viel um die Ohren hatte. Sie musste seine Stütze sein und durfte ihn nicht zusätzlich belasten.
Also nahm sie die Beleidigungen hin, und verkroch sich mehr und mehr in ihr Schneckenhaus. Einzig Blanche und Ernesto gelang es, sie von ihrer Trübsal abzulenken.
Als ihr Hund seinen Kopf mit der eindeutigen Aufforderung, seine Ohren zu kraulen, in ihre Hand drängte, schlich sich ein Lächeln in ihre Züge. Brutus gehörte ebenfalls zu denen, die sie regelmäßig zum Lachen brachten. Gehorsam massierte sie seine zerfetzten Ohren und fragte sich insgeheim, wer hier wen erzog. Er brummte zufrieden und legte eine Pfote auf ihren Bauch, wie um zu sagen, dass sie ihm gehörte und er nicht bereit war, sie mit jemandem zu teilen.
Nella lächelte und küsste seine Stirn. Ihr Leben hatte sich so gründlich verändert, dass sie sich nicht mehr auskannte. Seufzend schüttelte sie den Kopf. Heilige Maria Muttergottes, hier saß sie und bemitleidete sich selbst, dabei ging es ihr besser denn je. Sie konnte mehr oder weniger tun und lassen, was sie wollte, kaufen, was das Herz begehrte und dazu musste sie nichts weiter tun als für Enzo da zu sein, wenn er sie brauchte. Bedauerlicherweise hatte er in letzter Zeit kaum Zeit für sie.
Tatsache war, dass sie im Grunde nur ihn wollte. Seine Aufmerksamkeit, seine Zärtlichkeiten – seine Nähe. Ihr Therapeut, Professor Bernard, hatte ihr deswegen eine emotionale Abhängigkeit attestiert. Wenn sie an den Rest seines kleinen Vortrags dachte, bezweifelte sie, dass Enzo auch weiterhin die Rechnungen für die Sitzungen begleichen würde. Unterm Strich lief es darauf hinaus, dass sich ihr Leben um Enzo drehte, und Bernard hatte ihr geraten, etwas Eigenes aufzubauen. Also hatte sie sich hingesetzt und Ziele formuliert. Einmal angefangen konnte sie
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