Die Entscheidung
Moment nach ihr griff … Blanche drehte sie auf den Rücken und zog den Ärmel seines schwarzen Shirts hoch.
Da war sie. Mit Mittel und Zeigefinger fuhr sie das lange Mal am linken Unterarmen entlang, das von der Stichwunde eines Straßenkampfs stammte. Er hatte gewonnen, wie so oft. Offensichtlich war es nicht bei dieser Narbe geblieben. Ihre Brauen zogen sich zusammen, als sie die Brandnarben oberhalb des schnurgeraden Mals entdeckte. Blanche schluckte und berührte die verschnörkelten Buchstaben mit den Fingerspitzen. Jemand hatte ihm einen Namen in die Haut gebrannt, ihren, um genau zu sein.
Als sie aufsah, hielt sie der Blick seiner tiefgrünen Augen gefangen, als würde er ihre dunkelsten, verborgendsten Geheimnisse kennen, was genaugenommen auch zutraf.
Sie räusperte sich.
„Ein Branding?“, fragte sie heiser.
„Tattoos verblassen“, gab er leise zurück, stand auf, und nahm neben ihr auf der Bank Platz, um sie besser betrachten zu können.
„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, bemerkte er leise und strich ihr eine widerspenstige Strähne hinters Ohr.
Er schon. Dennoch konnte sie den Jungen von damals erkennen. Die ausdrucksvollen Augen, deren tiefes Grün sie immer fasziniert hatte. Der zu einem Grinsen verzogene Mund, der ein bisschen zu breit für das sommersprossige Gesicht war, was jedoch gut zu ihm passte. Es gab ihm etwas Übermütiges. Seine Feinde hatten ihn deswegen oft unterschätzt, denn auf den ersten Blick wirkte er ungefährlich. Wer ihn besser kannte, wusste, dass sein jungenhaftes Auftreten wie ein abgetragener Mantel von ihm abfiel, wenn es darum ging, sein Revier zu verteidigen. Dann hatte er nichts Spitzbübisches mehr an sich, denn wenn er kämpfte, tat er das mit einer Kaltblütigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte.
Andrej war wie sie ein Straßenkind, die kämpften weder sauber noch fair. Das waren Eigenschaften, die Wayne ihr später beigebracht hatte. Wenn man in der Gosse aufwuchs und Paris im Winter überleben wollte, musste man so lange auf seinen Gegner eintreten, bis der sich nicht mehr rührte. Ob er auf dem Boden lag oder nicht, spielte dabei keine Rolle – schließlich konnte er wiederkommen und einen im Schlaf abmurksen. Andrej hatte viele von denen zur Strecke gebracht, die ihnen Essen oder den Schlafplatz streitig gemacht hatten.
Während seine Augen über ihr Gesicht wanderten, drehte sie seine Hand und betrachtete die Innenseite. Sie war rau, teilweise verhornt, ein Zeichen, dass er regelmäßig trainierte. Wäre interessant, herauszufinden, was er dazugelernt hatte.
Als seine Hand ihre Wange bedeckte, sah sie auf und erwiderte seinen ruhigen Blick.
„Blanca“, flüsterte er. Seine Stimme klang tiefer, kräftiger.
Apropos. Bereits im Tunnel war ihr aufgefallen, dass er zwar schlank war, aber den festen Kern eines Kämpfers hatte. Kompakte Muskelstränge zeichneten sich durch den dünnen Stoff seines Shirts ab und betonten den durchtrainierten Körper darunter. Jetzt, wo er so nah bei ihr saß, wirkte er geradezu gestählt. Auch der Ausdruck seiner Augen war härter. Nicht in diesem Augenblick, doch in seinen Zügen zeichnete sich eine Rohheit ab, die sie vorher nicht gekannt hatte. Male einer Vergangenheit, die auch nach seinem Verschwinden kein Tanztee war, so viel konnte sie daraus ablesen.
Seine Fingerknöchel fuhren über ihre Wange, dann zog er sie in eine feste Umarmung, die sie nach kurzem Zögern erwiderte.
Sie schloss die Augen und atmete den sauberen Geruch von Seife und Ingwer ein. Dabei fiel ihr auf, dass sie sich nicht daran erinnerte, wonach er früher gerochen hatte.
„Ich kann dir nicht sagen, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe“, flüsterte er in ihr Haar.
Wenigstens hatte er in all den Jahren nicht die Hoffnung verloren. Sie dagegen war sich sicher gewesen, dass er tot und für immer verloren war. Erst jetzt, als er sie an sich drückte, wurde ihr bewusst, dass sie bis zum Schluss nicht an ein Wiedersehen geglaubt hatte. Noch immer wartete sie auf einen Haken, der zweifellos mit seinem Auftauchen einherging. Welchen Preis würde sie für ihre Wiedervereinigung zahlen müssen? Denn wenn sie etwas gelernt hatte, dann, dass nichts im Leben umsonst war.
Vorsichtig löste sie sich und sah ihn fragend an. „Wo bist du gewesen?“
Was war geschehen, nachdem er in Zoeys Limousine gestiegen war? Offensichtlich hatte der Moskauer ihn nicht kaltgemacht, aber wie konnte er, ein vierzehnjähriger Junge,
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