Die Entscheidung
extra.“
Ohne zu zögern , legte sie einen weiteren Schein auf den Tisch, und steckte sich mit bebenden Händen eine Gauloises an. Danach bezahlte sie das Gleiche noch mal, um ihr leeres Handy aufzuladen.
„Okay“, meldete sich Ernesto zurück. „Mit dem Auto kommen wir nicht durch, und der Flugraum ist nicht sicher.“
Oh Gott, was hatte sie getan? Würde sie mit ihren beiden Schützlingen die Nacht auf der Gendarmerie verbringen müssen?
„Allerdings können wir dich auf dem Fluss auflesen. Du bist in der Nähe der Seine, also geh zur Pont Neuf und warte an der Spitze des Square du Vert-Galant auf uns. Wir holen dich am Steg der Vedettes ab, weißt du, wo das ist?“
Jeder kannte die Schiffe der Vedettes, einem der bekanntesten Bootstouren-Unternehmen.
Ernesto schien keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr ohne Pause fort: „Wir sind in einer Viertelstunde bei dir, bene?“
„Okay“, flüsterte sie.
„Pass gut auf dich auf. Du befindest dich im Zentrum des Sturms. Halt die Augen nach Fluchtmöglichkeiten offen, und versteck dich am Kai, bis wir da sind. Ich komme selbst und hole dich.“
„I-ist gut, Ernesto.“ Pause. „Es tut mir leid.“
„Ich weiß“, antwortete er und beendete das Gespräch.
Sie war noch nicht weit gekommen, als sie Schritte hinter sich bemerkte. Zuerst dachte sie sich nichts dabei, bis Brutus ein warnendes Knurren ausstieß. Bisher hatte er sich vorbildlich benommen, darum verstärkte sie den Griff um die Leine und spitzte die Ohren. Jemand war hinter ihr, mindestens zwei Personen, vielleicht drei. Noch lag genug Abstand zwischen ihnen, doch nach ein paar Metern glaubte Nella, sie näher kommen zu hören.
Vielleicht waren das bloß Passanten, die es eilig hatten, dem Chaos der Rue de Rivoli zu entkommen. Möglicherweise handelte es sich um Polizisten, die die Gegend sicherten und dafür sorgten, dass die Sperrstunde eingehalten wurde.
Aber was, wenn nicht? Was, wenn sie tatsächlich verfolgt wurde? Wenn Enzos Feinde hinter ihr her waren, und sie sich ihnen in einem Anfall von akuter Idiotie auf einem Silbertablett präsentierte? Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger konnte sie ihre Dummheit fassen. Hier lief sie, mutterseelenallein durch eine verlassene Gegend im nächtlichen Paris, während ein Bandenkrieg tobte, der Enzo allmählich in den Ruin trieb. Was hatte sie sich dabei gedacht? Vermutlich nichts, sonst würde sie nicht in dieser verflixten Klemme stecken.
Als die Rue Baillet zu ihrer Linken auftauchte, nutzte sie die Chance und rannte los. Zu ihrem Schrecken hörte sie die schweren Stiefel hinter sich ebenfalls loslaufen.
So viel zu ihrer Harmlose-Fußgänger-Theorie.
Was für ein Plüsch.
*
„Haben die hier noch nichts von der Sperrstunde gehört?“, fragte Blanche, die von Andrej in das spärlich beleuchtete Restaurant geführt wurde.
„Ich kenne den Besitzer“, gab er mit einem mysteriösen Lächeln zurück. „Und das bisschen Licht hier oben kann man von der Straße nicht ausmachen.“
Damit hatte er wohl recht. Das Maison Blanche befand sich im obersten Stockwerk des Theaters und war, wie der Name verriet, ganz in Weiß gehalten. Das elegante Restaurant erstreckte sich über zwei Etagen und bot seinen Gästen dank der verglasten Südfront einen fantastischen Blick über Paris bei Nacht. Zumindest war das der Fall, bevor der Eiffelturm auseinandergebrochen war und der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Im Moment gab es nichts Sehenswertes. Von der Eisernen Lady abgesehen, waren die meisten Lichter der Vergnügungsmeile nach 22:00 Uhr gelöscht worden. Selbst die Ausflugsboote der Seine lagen aufgrund der ausbleibenden Touristen vor Anker. Allerdings war sie nicht wegen der Aussicht hier.
Blanche nahm an einem Tisch in einer Nische Platz, dann wandte sie sich an Andrej, dessen Gesicht diesmal nicht im Schatten lag. Bei ihrer letzten Begegnung war er vierzehn gewesen. Heute, zehn Jahre später, hatte er kaum noch etwas mit dem Jungen gemeinsam, den sie mit elf Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.
Das kastanienbraune Haar war im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Früher hatte sie es ihm mit einem Messer geschnitten, damit es nie länger als zwei, drei Zentimeter wurde. Er hasste es, wenn es ihm ins Gesicht fiel – zumindest damals. Das kantige Kinn wurde von einem Bartschatten bedeckt, der weit vom Flaum des Vierzehnjährigen entfernt war. Seine einst helle Haut war nun gebräunt, und die Hand, die in diesem
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