Die Entscheidung
entkommen?
Andrej drückte ihre Hand und deutete mit dem Kopf zum Kellner, der mit geübten Griffen ein prall gefülltes Tablett entlud. Olivenbrot, ein Brett mit verschiedenen Käsesorten, Tarte Provençale und Cidre. Schließlich zog er sich mit einem Zwinkern in ihre Richtung zurück, und sie waren allein.
*
Zur Pont Neuf waren es keine fünf Minuten, dennoch kam ihr der Weg wie eine Ewigkeit vor. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ständig sah sie sich um. Es wurde auch nicht besser, als sie eine Explosion hörte und wie aus dem Nichts Hubschrauber mit Suchscheinwerfern auftauchten. Hielten sie nach Blanche Ausschau, oder hatten sie ihre Freundin bereits gefunden? Was, wenn sie ihr etwas antaten?
Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Brutus sah zu ihr auf und gab ein kehliges Jaulen von sich. Es gab keine Worte, die ihre Dankbarkeit ausdrücken konnten, dass sie in diesem Augenblick nicht allein war. Ohne ihren Beschützer wäre sie vermutlich schon lange in Panik geraten, aber sie musste stark sein. Für ihren kleinen Schützling, der in ihrer Armbeuge schlief, für Brutus – und für Blanche. Wenn sich ihre Freundin gegen eine Übermacht behaupten konnte, musste sie es zumindest versuchen. Sie hatte schon Schlimmeres überlebt, außerdem war Hilfe unterwegs. Sie musste bloß zehn Minuten durchhalten, und es irgendwie ans Ufer schaffen.
Ein weiterer Hubschrauber fegte in nördlicher Richtung über ihren Kopf hinweg. Nella nahm ihren Mut zusammen und rannte die Gasse entlang, die keinerlei Möglichkeit bot, sich zu verstecken. Diese Straße schien nur aus verrammelten Garagentoren zu bestehen. Hier gab es nur eine einzige, lausige Bar, mit Blick auf heruntergelassene Rolltore – und selbst die war geschlossen. Wer bei Verstand eröffnete in diesem erbärmlichen Loch eine Bar?
Als sie das Ende der Rue Baillet erreicht hatte, tauchten ihre Verfolger auf der gegenüberliegende Seite der Gasse auf. Sie waren zu dritt und versuchten nicht länger, sich unauffällig zu verhalten. Sie zogen ihre Waffen und liefen fluchend auf sie zu. Erst da begriff sie, dass sie sich vor den Polizeihubschraubern versteckt hatten. Was bedeutete, dass es sich bei den Jungs um Sergejs Leute handeln musste – oder eine der anderen Organisationen, die Enzo in die Knie zwingen wollten. Eine Möglichkeit bestand darin, ihn mit dem Leben seiner neuen Flamme zu erpressen.
Bei dem Gedanken erschauderte sie und ihr Herz verknotete sich in ihrer Brust. Enzo würde sich niemals erpressen lassen, von niemandem.
Nella rannte um ihr Leben, schlitterte rechts in die Rue de la Monnaie und rannte weiter. Das Wasser war jetzt ganz nahe, bis zur Metrostation Pont Neuf waren es keine hundert Meter. Doch auch hier gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Die glatte Sandsteinfassade des ehemaligen La Samaritaine, ein Warenhaus, das zum Luxushotel umgebaut wurde, bot keinen Schutz, und in den Untergrund konnte sie nicht. Diese Kerle mussten annehmen, dass sie versuchen würde, sich in der Metro zu verstecken, also wohin?
Brutus, der ihre wachsende Panik spürte, stieß ein tiefes Knurren aus und zog an der Leine. Im Gegensatz zu ihr wollte er sich der Gefahr stellen, doch sie war mit einem Mal vor Angst wie gelähmt. Sie hatten den Quai du Louvre erreicht, doch die sonst viel befahrene Hauptstraße war wie ausgestorben. Am liebsten hätte sie geschrien. Wo waren die Bullen, wenn man sie brauchte? Zwei Häuserblocks zuvor wimmelte es vor Uniformierten, und hier? Außerdem war dies ein Einkaufsviertel, was trieben die Touristen? Sie befanden sich mitten in der Vorweihnachtszeit, verplüscht noch mal! Und warum hielt sich auf einmal jedermann an diese lächerliche Sperrstunde? Dies war Frankreich! Kein waschechter Franzose ließ sich von einer Behörde vorschreiben, wann er einen Spaziergang unternehmen durfte und wann nicht.
„Arrêter!“, rief eine Stimme hinter ihr, dann hörte sie den Schuss. Nella schrie auf. Der Knall riss sie aus ihrer Starre, und endlich setzten sich ihre Beine in Bewegung. Tatsächlich rannte sie schneller denn je, einen wild bellenden Brutus im Schlepptau, der keine Anstalten machte, den Vorwärtsgang einzulegen. Also zog sie ihn wie eine kläffende Pelzkugel hinter sich her, bis sie einsehen musste, dass sie auf diese Weise nicht schnell genug vorwärtskam. Sie liebte ihren Hund, aber sie hatte nicht vor, hier und jetzt ihr Leben zu verlieren, weil er sich
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