Die Entscheidung
anderthalb Stunden vergangen – für zwei Kilometer. Genervt und durchgefroren kletterte Nella die Leiter hinauf und fand sich im Metrotunnel der Linie vier wieder. Einige Treppenabsätze später betraten sie den Transitbereich des Gare du Nord, Knotenpunkt der Regionalbahn und der Flughafenshuttles.
Ramirez ging voraus, und Brutus wurde Nella wieder übergeben, da die Männer nun ihre Waffen zogen und die stillgelegte Rolltreppe Richtung Bahnsteig nahmen.
Es war ein befremdlicher Anblick, die sonst so belebten Gleise wie leer gefegt zu sehen. Aus ihrer Zeit vor Enzo kannte sie das Gebäude in- und auswendig, besonders das Terrain um die Schließfächer und Toiletten. Sie wusste, wo Drogen vertickt wurden und kannte die Schlepper, die allein reisenden Geschäftsleuten Visitenkarten und Flyer von Nachtclubs zusteckten. Außerdem wusste sie, wo man die besten Croissants der Stadt bekam, bei Corné. Deren Milchkaffee war auch nicht zu verachten. Normalerweise musste man an dem Stand eine Viertelstunde anstehen, aber heute befand sich kein Mensch auf den Gleisen. Bis auf …
Sie zupfte an Ramirez Ärmel, der ihrem Blick folgte. Er hob eine Hand, und der Rest der Männer blieb wie angewurzelt stehen. Nach einem weiteren stummen Befehl suchten die Jungs hinter dem verglasten Thalys-Schalter Deckung.
Dort, zwischen den Gleisen, stand Blanche, und sie war nicht allein. Ein paar Schritte hinter ihr stand Andrej, der den Blick über den Bahnsteig wandern ließ. Blanches Mund bewegte sich, als würde sie mit ihm reden, doch sie sprach in die entgegengesetzte Richtung, wie seltsam.
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie sich umdrehen, und bevor sie Plüsch sagen konnte, befand sie sich der Länge nach auf dem Boden – genau wie Ramirez.
Eine Waffe war gegen seine Stirn gerichtet, und ein sehr wütender Marcel zischte: „Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung hierfür!“
*
Es gab Tage, da fragte sich Enzo, ob er nicht besser Bäcker geworden wäre wie sein Großvater. Das heute war so einer. Eigentlich hätte alles wie am Schnürchen laufen müssen, aber das Leben hatte andere Pläne.
Kurz bevor er aufbrechen wollte, rief Sergej an, um den Treffpunkt zu verlegen. Als ob er das zulassen würde. Niemand wollte in eine wohlpräparierte Falle des Gegners tappen, deswegen war der Nordbahnhof so fantastisch. Das Gelände war geräumt, niemand kam rein oder raus, ohne auf ein Heer aus Gendarmerie und Militär zu stoßen, die mit Hubschraubern, Maschinengewehren und Spürhunden ausgerüstet waren. Sicherer ging es nicht. Davon abgesehen war dies der Ort, an dem laut Blanche die Hölle losbrechen würde. Nichts und niemand würde ihn dazu bringen, jetzt noch etwas zu ändern. Aber so war Sergej.
Enzo hatte vor, das allgemeine Durcheinander zu nutzen, und mit seinen Männern in Tarnanzügen und dazu passendem Militärfahrzeug aufzulaufen. Die notwendigen Vollmachten und Pässe waren eine Meisterleistung seines Lieblingsfälschers, außerdem kannte er jemanden in der Zentrale, der ihm einen Gefallen schuldete. Oder auch zwei. Alles war sorgfältig ausgearbeitet und bis ins letzte Detail geplant, dann rief dieser wankelmütige Russe an und wollte das Treffen erst verschieben und schließlich abblasen.
Erst nachdem Enzo unterstellte, dass Sergej deswegen so ein Gewese veranstaltete, weil er sich und seine Leute nicht ins Gebäude schleusen konnte, lenkte er ein. Allerdings nicht, ohne den Zeitpunkt eine halbe Stunde vorzuziehen. Dieses buco del culo .
Als er schließlich vor Ort war, machten die Streckenposten mehr Palaver, als er erwartet hatte. Die Zeit lief ihm davon, und als er es endlich ins Gebäude geschafft hatte, musste er feststellen, dass Sergej auf die gleiche Weise in den Bahnhof gelangt war wie er. Der Russe und seine Bodyguards standen in voller Camouflage vor ihnen, nur dass sie sich als Bombenentschärfungstrupp getarnt hatten. Clever. Im Schlepptau befand sich Levan, ein stämmiger Georgier, der die restlichen Organisationen vertrat.
Das Herrenklo mochte nicht der beste Ort für eine Neuverteilung der Stadt sein, aber irgendwie war er auch nicht ganz unpassend.
Gerade, als sie in die Pseudo-Verhandlungen einstiegen, meldete sich Enzos Telefon. Der Klingelton verriet, dass es sich um Lucas handelte. Er und Giacomo hatten dafür zu sorgen, dass sie nicht gestört wurden. Er durfte ihn nur im Notfall anrufen, also falls das Militär anrückte oder das Gebäude nicht mehr sicher war.
„Ich hoffe, es
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