Die Entscheidung
Gleise, deswegen hockten hier normalerweise jede Menge Architekturstudenten, um die beeindruckende Baukunst des alten Bahnhofs zu skizzieren.
Heute saßen keine Studenten auf der Plattform, stattdessen kauerten Marcel, Ramirez und sie hinter der riesigen Statue von Ludmila Tchérina und beobachteten, was sich unter ihnen tat. Ernesto stand abseits beim Ticketschalter und telefonierte mit Enzo, der sich ebenfalls im Gebäude befand. Es hatte sie überrascht, dass er sich ausgerechnet hier mit Sergej treffen wollte. Eigentlich hätte sie nicht mal das wissen dürfen, doch dank der angelehnten Verbindungstüren hatte sie mehr mitbekommen, als Enzo bewusst war, und eins und eins zusammengezählt. Ernestos Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war Enzo über ihr Erscheinen alles andere als begeistert. Nella senkte die Augen, dann ließ Ernesto das Handy fallen und sie wurden von den Ereignissen auf den Gleisen abgelenkt. Wo vorher nur Blanche und Andrej standen, befanden sich jetzt drei weitere Personen. Obwohl Personen nicht ganz zutraf. Einer von denen war riesig und sah wie ein Insekt aus, das man zu lange unter dem Bunsenbrenner gehalten hatte. Der Typ daneben war ebenfalls groß, doch im Gegensatz zu dem verbrannten Grashüpfer war er muskulös und voller Narben. Doch das war nicht das Besondere an ihm, sondern die … ähm, Flügel, die er soeben öffnete. Flügel!
Ach. Du. Plüsch.
Nella schlug sich die Hand vor den Mund, während sie mit der Faszination des Grauens beobachtete, wie sich die skelettartigen Schwingen entfalteten und zu ihrer vollen Größe ausbreiteten. Zuerst wirkten sie fledermausartig, doch kaum waren sie geöffnet, wuchsen ihnen pechschwarze Federn. Der Heuschrecke wuchsen ebenfalls Flügel, doch im Gegensatz zu dem narbigen Kerl blieben sie ledrig und kahl. Der dritte Mann hatte nichts Spektakuläres an sich. Er war klein und sah alles in allem wie ein älterer Herr aus, der sich ins falsche Jahrhundert verirrt hatte. Bevor sie ihn näher in Augenschein nehmen konnte, stieß der Grashüpfer einen Schrei aus, der sie an einen Raubvogel erinnerte. Sie presste beide Hände auf die Ohren, dann schoss ein goldgelber Lichtschein aus dem Boden, direkt unter Blanches Füßen. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass ihre Freundin in einer Seifenblase eingeschlossen war – zumindest sah es so aus.
Die vier Männer, die um Blanche gruppiert waren, schienen etwas zu beschwören. Oder jemanden.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, veränderte sich das Licht. Es sah wie eine feurige Nabelschnur aus, die sich langsam gegen den Uhrzeigersinn drehte. Innen bewegte sich etwas Dunkles, und ihr Instinkt verriet ihr, dass das nichts Gutes war. Es schien ausbrechen zu wollen, raus aus dem Tunnel, der sich unaufhaltsam in die Höhe schraubte, mit Blanche in seinem Zentrum.
Wo sie stand, was nichts Finsteres, sie schien das Dunkle zu teilen wie Moses das Rote Meer. Es machte ein bisschen den Eindruck, als wäre sie diejenige, die es davon abhielt, hervorzubrechen.
Marcel fluchte und erhob sich, Ramirez tat es ihm gleich. Nella starrte noch einen Augenblick auf Blanche, dann schluckte sie einen Kloß hinunter. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
„Wir müssen hier raus.“ Zuerst kam es als Flüstern, doch nachdem sie ebenfalls stand und sich mit den anderen zum Eurostar Terminal zurückgezogen hatte, ergriff sie Marcels Revers und sagte mit fester Stimme: „Wir müssen hier sofort weg!“ Sie gab es nur ungern zu, aber es gab nichts, das sie tun konnten, um Blanche zu helfen. Was immer hier ablief , war jenseits ihrer Möglichkeiten.
Glücklicherweise sah Marcel das genauso, denn er startete keine dieser hirnrissigen Diskussionen, in der sie stundenlang das Für und Wider abwogen. Stattdessen nickte er knapp und rief seinen Männern Anweisungen zu. Einen Augenblick später wurde sie von Ramirez wie ein Sack Mehl über die Schulter geworfen, der zur Treppe joggte.
„Was ist mit Enzo?“, rief sie, und drückte Brutus an ihre Seite, der ein herzerweichendes Jaulen von sich gab.
„Um den kümmert sich Marcel“, keuchte er im Laufschritt, während er in den Untergrund rannte. Fort vom Bahnsteig, weg von Blanche.
Oh Gott, hoffentlich passierte ihr nichts. Was tat sie auf den Gleisen, und wer waren diese schräg aussehenden Typen? Das Ganze sah so was von abgedreht aus. Und dann dieses seltsame Licht.
Obwohl es sich wie eine Ewigkeit anfühlte, konnten sie nicht lange unterwegs gewesen sein, als
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