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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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freundlich.

    Plötzlich wusste sie es.
    Sie wusste es mit schockierender Gewissheit. Aber es war ein so unmögliches, unerträgliches Wissen, dass sie es so schnell wie möglich von sich schob, in ihr Unterbewusstsein verbannte. Es war Wahnsinn, auch nur darüber nachzudenken.
    Sie hörte ein Klicken am unteren Rand der Kiste und sah, dass eine Karte in einem Schlitz erschienen war. Reflexartig griff sie danach – bevor sie abrupt innehielt. Wieder hatte sie das Gefühl, als wolle ihr Verstand sie warnen.
    Ihre Finger umschlossen die Karte. Dann drehte sie die Karte um – und starrte auf die Schrift.
    Sie spürte, wie sie das Bewusstsein zu verlieren drohte.
    Die engen Linien waren verblasst, aber durchaus lesbar. Keine Wahrsagung oder Persönlichkeitsanalyse.
    Die ganze Karte war bedeckt mit zwei Worten, die sich immer wiederholten.
    HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR HILF MIR …
    Die Buchstaben verschwammen vor Jennys Augen und verschmolzen zu einem funkelnden schwarz-weißen Muster. Sie konnte weder das Zittern kontrollieren noch das Rumoren in ihrem Magen. Sie konnte ihre Beine nicht mehr spüren. Und sie konnte nicht schreien – obwohl ein Schrei aus ihr herauswollte.

    Ihre Handflächen und ihr Hintern knallten auf den Boden, als ihre Beine nachgaben.
    »Was ist passiert? Hat dir das Ding etwas getan?« Plötzlich waren die anderen um sie herum. Aber Jenny konnte nur zu der Kiste hinaufstarren. Die Karte zerknitterte, während ihre Finger sich noch fester darum schlossen.
    Diese müden, dunklen Augen, oh ja, sie waren ihr vertraut. Aber sie gehörten nicht zu einer schäbigen Samtrobe und einem langen Bart aus Engelshaar. Sie gehörten zu einem schmalen, gebeugten Körper, einem Strickpullover und sich lichtendem weißen Haar. Und zu einem Geruch nach Pfefferminz, weil er immer Pfefferminzbonbons in seinen Taschen hatte.
    »Es ist Grandpa«, brachte Jenny flüsternd heraus. »Oh, Dee, es ist mein Grandpa, es ist mein Grandpa  …«
    Dee warf einen Blick auf die Kiste. Als sie Jenny wieder ansah, war ihr Gesicht gefasst. »Okay, immer mit der Ruhe. Wir besorgen etwas Wasser für dich.«
    »Nein!«, schrie Jenny. Wie von Sinnen hämmerte sie mit kraftlosen Fäusten auf Dee ein. »Versuch nicht, mich zu beschwichtigen. Da drin ist Grandpa – sie haben ihm das angetan. Oh Gott!« Tränenüberströmt riss sie den Kopf herum. »Es soll ein Scherz sein, versteht ihr nicht? Er war ein Hexer – jetzt ist er ein Zauberer. Ich dachte, er sei tot – aber das hier ist um so vieles schlimmer …«

    Dee umschloss Jennys fuchtelnde Hände, um sie zu beruhigen. Da nahm Jenny zum ersten Mal bewusst Michael und Audrey wahr, die vorsichtig über Dees Schulter spähten.
    »Es ist wahr«, stieß sie hervor und wurde dann endlich ein wenig ruhiger. »Seht euch diese Karte an. Er will Hilfe. Er will raus!«
    Michael nahm stumm die Karte und zeigte sie Dee und Audrey. Dann betrachteten alle die Kiste.
    Der Zauberer bewegte sich noch immer, starrte mit tragischer Miene geradeaus und schlug mit seinem Stab auf den Tisch. Seine Hände waren unbeschädigt, wie Jenny bemerkte. Sie konnte die Farbperlen in den flachen Rillen zwischen den Fingern sehen.
    Sie war davon ausgegangen, dass die Schattenmänner ihn gefressen hatten. Genauso hatten die hungrigen Augen in dem Schrank ausgesehen.
    Aber was auch immer sie mit seinem Körper gemacht hatten – seine Seele war hier.
    Sie hatten sie in dieses – Ding gesteckt. In einen Plastikkörper, damit er für immer dastehen, sich wie ein Uhrwerk bewegen und mit dem Zauberstab schlagen musste, wenn der Apparat gestartet wurde.
    Julian hatte gesagt, der Schattenpark sei vor zehn Jahren erschaffen worden, und zwar aus einem speziellen Grund. Es war gut zehn Jahre her, dass ihr Großvater verschwunden war.

    »Sie haben es getan, um ihn zu bestrafen«, flüsterte sie. »Sie haben ihn hierher gebracht, damit er niemals sterben kann – sie haben ihn gefangen, so wie er sie in dem Schrank gefangen hat …« Ihre Stimme wurde immer höher.
    Michael schluckte, und er sah aus, als sei ihm übel. Dees Nasenflügel bebten.
    Da hörten sie ein Klicken, und eine weitere Karte erschien in dem Schlitz.
    Dee ließ Jennys Hände los und griff danach. Jenny rappelte sich auf die Knie hoch, um über Dees Arm zu schauen.
    SEHT IN DEM SCHWARZEN SCHRANK NACH.
    »Dort«, sagte Michael. Jenny drehte sich um.

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