Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
Vom Netzwerk:
Audrey vernünftig. »Gibt es ein besseres Versteck für eine Dublone?«
    Sie blieben dicht beisammen und bewegten sich vorsichtig durch den dunklen Raum, um die Schränke nach etwas Goldglänzendem abzusuchen.
    Michael fand ein Mutoskop und beugte sich zaghaft vor, um in die antike Flimmerkiste zu schauen: BEOBACHTE DIE UNARTIGE MARIETTA BEIM SONNENBAD, lautete das Schild auf dem in Messing gefassten Apparat, VON DER NEW YORKER ZENSUR AM 12. OKTOBER 1897 FREIGEGEBEN.
    »Mein Arm tut schon weh vom Kurbeln«, sagte er schließlich. »Und man sieht nur eine Dame, die in ein Laken gehüllt ist.«
    Audrey verweilte vor einem kunstvoll geschnitzten goldenen Apparat, dessen Farbe schon sehr verblasst war und abblätterte. Dee begutachtete einen Schrank, der wie eine Standuhr aussah und die Aufschrift trug: BETRACHTE DAS SCHRECKLICHE MONSTER. BEÄNGSTIGEND – SCHOCKIEREND – NUR 5 CENT. Jenny wusste schon, was einen hier erwartete: Man steckte sein Geld hinein – und sah in einen Spiegel.
    Jenny wagte sich ein bisschen tiefer den Flur hinunter. Nicht wegen dieses Kraftmessers – sie wollte ihn nicht
berühren. Sie wollte auch nicht auf das Gerät für Fußmassagen treten.
    Da – eine ziemlich schäbige Holzkiste mit dunklem Glas. Das Schild hatte die Aufschrift: FRAG DEN ZAUBERER! STECK 10 CENT IN DEN SCHLITZ, UND DER ZAUBERER WIRD FÜR DICH ZAUBERN. Darunter war ein Plastikstreifen: LASS DIR HIER DIE ZUKUNFT VORAUSSAGEN.
    Jenny hatte solche kartenlegenden Wahrsager immer schon gemocht. Sie liebte die ungeheuerlichen Weissagungen darüber, ob man heiraten würde und welche Laufbahn man einschlug. Sie nahm ein 10-Cent-Stück.
    Der Münzschlitz war wie eine Sphinx geformt. Jenny zögerte einen Moment, während sie das Geldstück an das kühle Metall hielt. Eine böse Vorahnung durchzuckte sie. Wie eine Warnung, innezuhalten und gut nachzudenken, bevor sie etwas Überstürztes tat.
    Aber was war überstürzt daran, einen mechanischen Zauberer in Gang zu setzen? Und sie mussten diesen Raum durchsuchen.
    Sie schob das 10-Cent-Stück in den Schlitz.

Als die Münze irgendwo im Inneren der Holzkiste aufprallte, hörte Jenny ein schwaches Summen, dann ein Ticken. Das Glas hellte sich auf, und Jenny sah, dass jetzt zwei nackte Glühbirnen brannten.
    Sie beleuchteten einen Zauberer, vielleicht sechzig Zentimeter hoch, mit einer überraschend schwermütigen, gequälten Miene. Während Jenny ihn beobachtete, begann er sich ruckartig zu bewegen, wie ein Uhrwerk.
    Seine Augen klappten auf und zu, seine Augenbrauen hoben und senkten sich. Unter einem erstaunlich feinen und lebensechten Bart bewegte sich seine etwas zerklüftete Unterlippe, als murmele er vor sich hin. Das Gesicht war aus rötlichem Plastik, mit karminroten Lippen und dunklen Ringen unter den Augen. Jenny konnte einige Schichten verkrusteter Farbe auf seinen Wangen sehen.
    Armes Ding, dachte sie. So absurd es auch sein mochte – ihr tat diese heruntergekommene Figur leid. Die Wimpern waren verfilzt, die schwarze Samtrobe staubig und mit roten Fusseln überzogen.
    Ein seltsames Gefühl überkam Jenny. Ihre Brust war plötzlich wie zugeschnürt. Es war lächerlich, für einen Automaten Mitleid zu empfinden. Aber die Figur sah so
jämmerlich aus – so gefangen dort in der Kiste, vor einer schäbigen roten Samtkulisse …
    Und da war etwas an der Figur … an ihrem Gesicht …
    In seiner geballten Faust hielt der Zauberer einen angeschlagenen Zauberstab, von dem die Farbe abblätterte. Er hob den Stab und schlug damit auf den Tisch vor sich – Jenny konnte eine Einkerbung an der Stelle sehen, auf die er schon viele Male zuvor geschlagen hatte.
    Seine Augen klappten unaufhörlich auf und zu, rollten herum, bewegten sich hin und her. Er sah den Zauberstab nicht an.
    Auch seine Unterlippe bewegte sich unaufhörlich und entblößte weiß bemalte Zähne, aber es kam kein Geräusch aus seinem Mund. Er schien mit sich selbst zu reden.
    Jenny war wie gebannt von den ruckartigen, beinah aggressiven Bewegungen des Zauberers – ohne genau zu wissen, warum. Und genau das machte ihr Angst. Das liegt nur daran, beruhigte sie sich, dass er wie einer dieser Obdachlosen aussieht. Deshalb kommt er dir bekannt vor.
    Aber nein. Es war mehr als das. Da war etwas an diesem Plastikgesicht … Das Gesicht war in einem Ausdruck unsäglicher Traurigkeit erstarrt.
    Die Glasaugen rollten – und dann starrten sie Jenny direkt an. Dunkel wie Murmeln, seltsam müde, seltsam

Weitere Kostenlose Bücher