Die Entscheidung
immer tiefer hineingezogen wurde.
»Es reißt mir den Arm ab!«
Jenny keuchte und schluchzte beinahe. Michael zerrte an Audrey.
»Nein, zieh nicht! Zieh nicht! Es tut weh!« Vaseline, dachte Jenny. Oder Seife – irgendetwas, um den Arm geschmeidig zu machen. Aber sie hatte nichts.
»Dee!«, rief sie. »Versuch mit der Hacke, die Zähne auseinanderzustemmen. Michael, warte, bis Dee drin ist – und dann zieh.«
Audrey schrie immer noch, und Michael weinte. Jenny stand unter Schock und bemerkte wie durch einen Nebel, dass die steinerne Bestie sich weiter veränderte, sich noch mehr entstellte. Dee verkeilte die Spitze ihrer Hacke zwischen den grauen moosigen Zähnen und zog am Griff. Jenny fasste mit an, um ihr zu helfen.
»Fester!«
Dee stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Löwen. Jenny betete, dass der Holzgriff der Hacke nicht brach.
Sie spürte, wie sich etwas bewegte – der Oberkiefer hob sich etwas, wie ein Auto über einem Wagenheber.
»Zieh, Michael!«
Michael zog. Audreys Arm kam heraus.
Sie schrie, und ihre Stimme hatte einen neuen Klang –
ein Kreischen, das Jenny einen Stich versetzte. Aber ihr Arm kam heraus.
Alle fielen rückwärts, und die Hacke landete krachend auf dem Boden. Mit vereinten Kräften krochen sie von dem Zirkuswagen weg, immer noch aneinander geklammert.
Erst da betrachtete Jenny Audreys Arm genauer.
Die Zahnabdrücke waren deutlich zu sehen. Oder besser gesagt Abdrücke, als hätten scharfe Steine über die Haut gekratzt. Lange, raue Rillen, die gerade anfingen zu bluten.
»Audrey – oh Gott, bist du okay?«, keuchte Michael.
»Ich wette, ich werde morgen Bauchschmerzen haben« , gurgelte eine irrsinnige Stimme.
Jenny blickte auf. Die Cyberbestie veränderte sich nicht mehr, ihre Züge waren zu einem Knurren mit gefletschten Zähnen erstarrt.
Dee hob eine geballte Faust, und auf ihrem schlanken Arm traten die Sehnen hervor. Dann ließ sie sie sinken. »Ich glaube nicht, dass es sich auf uns zubewegen kann«, sagte sie mit seltsam verschreckter Stimme. Jenny schaute sie überrascht an, aber Dee drehte sich um, sodass Jenny nur noch ihren kurz geschorenen Hinterkopf sah, auf dem ihre samtigen Haarknospen schimmerten.
»Hat irgendjemand Schmerztabletten?«, fragte Jenny. »Ich hab meine verloren.«
Michael, der sein Sweatshirt ausgezogen hatte und versuchte, Audreys Arm in sein Unterhemd zu wickeln, schob eine Hand in seine Hosentasche. »Ich habe welche … hier.«
Audreys linke Hand zitterte, als sie die Tabletten entgegennahm und mit einem Schluck Wasser aus der Feldflasche herunterspülte, die Dee ihr schweigend hinhielt.
»Bist du okay?«, fragte Jenny zögerlich.
Audrey nahm noch einen weiteren Schluck Wasser. Ihre stachligen Wimpern zeichneten sich dunkel vor ihrem Gesicht ab, als sie sich an Michael lehnte. Sie war weiß wie Porzellan und wirkte ebenso zerbrechlich. Aber sie nickte.
»Wirklich? Kannst du den Arm bewegen und alles?« Michaels Baumwollunterhemd färbte sich an manchen Stellen rosa, aber es waren nicht die Bisswunden, die Jenny Sorgen bereiteten. Sie hatte Angst, dass Audreys Schulter ausgekugelt sein könnte.
Audrey nickte erneut. Ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Sie hob den bandagierten rechten Arm. Dann öffnete sie langsam die Faust.
In ihrer Hand lag, golden wie eine Butterblume, eine Dublone.
Michael stieß ein lautes Lachen aus.
»Du hast sie! Du wolltest nicht loslassen, du kleine …« Er umarmte Audrey stürmisch.
»Du darfst mich küssen«, sagte Audrey. »Quetsch nur
meinen Arm nicht.« Sie drehte den Kopf in Dees Richtung. »Nur gut, dass deine Hacke so stabil war. Kein Rohleder dran!«
Es war eine außerordentlich großzügige Reaktion von Audrey, aber Dee schien sie als Beleidigung aufzufassen. Zumindest konnte Jenny keine Regung in Dees Gesicht erkennen, nur die feine Wölbung eines dunklen Wangenknochens.
»Wenn sich alle bewegen können, sollten wir besser aufbrechen«, stellte Dee fest. »Wir sind hier völlig ungeschützt; alles könnte sich an uns heranschleichen.«
Jenny half Audrey aufzustehen, während Michael sein Sweatshirt wieder anzog. Das Löwending beobachtete sie zwischen den Gitterstäben hindurch wie die Fratze eines Wasserspeiers.
»Was sollen wir mit der Münze machen?«, fragte Audrey.
»Ich werde sie nehmen.« Jenny schob die Münze in die Brusttasche ihrer Hemdbluse und knöpfte sie zu. »Wenn wir das Karussell erreichen, können wir uns ausruhen. Daneben ist
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