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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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Dutzende von Tarnjacken da seien, die alle in verschiedene Richtungen gingen.
    Zach hat diese Spiegel auch immer gehasst, erinnerte Jenny sich, als sie um eine scharfe Ecke bog. So sehr, dass Julian sie zum Teil seines Albtraums in dem Papierhaus gemacht hatte. Da fiel ihr auf, dass sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr an ihren Cousin gedacht hatte. Die Sorge um Tom hatte sie zu sehr beschäftigt – und der Kampf ums Überleben.

    Aber sie vermisste Zach wirklich. Sie vermisste seine wintergrauen Augen und sein scharf geschnittenes Gesicht und seine wortkarge Intelligenz. Selbst wenn Tom in Sicherheit gewesen wäre, wäre sie in die Schattenwelt gekommen, um Zach zu retten.
    »Oh Gott«, sagte Dee. »Was ist das denn?«
    Sie hatten das Spiegellabyrinth verlassen und befanden sich jetzt in dunklen gewundenen Gängen mit äußerst wackeligen Dielenbrettern. Alle paar Meter standen Ausstellungsstücke – wie in einem Museum. Nur dass Jenny so etwas noch nie in einem Museum gesehen hatte.
    »Widerlich«, murmelte Michael. Und das war es tatsächlich. Die Ausstellungsstücke zeigten schauerliche Folterszenen mit Wachsfiguren als Opfer und Folterknechte. Jenny erkannte einige der Vorrichtungen. Die Streckbank. Die Eiserne Jungfrau. Die Daumenschraube.
    Andere Dinge waren quälend unvertraut und daher noch schrecklicher. Stiefel mit einer Art Griff wie der Schraubstock, den Toms Vater in seiner Garagenwerkstatt hatte. Um Knochen zu brechen, vermutete Jenny. Groteske Metallhelme mit Eisenzungen, die das Opfer würgten. Käfige, die viel zu klein waren, um zu stehen oder sich hinzulegen. Und jede Menge Gerätschaften, um zu brennen oder zu schneiden oder zu verstümmeln.
    »Das war heute Nachmittag aber noch nicht hier«, bemerkte Audrey.

    »Schätze, das ist meine Schuld«, sagte Dee nach einem kurzen Moment der Stille. »Ich bin einmal mit meiner Mutter nach San Francisco gefahren, und da war ein Haus im Hafenviertel – ein Gruselkabinett, versteht ihr? Das hat mir jahrelang Albträume beschert.«
    Hastig wandte sie sich von der nächsten Szene ab und lehnte sich mit gesenktem Kopf an die Wand. Sie atmete schwer.
    Jenny spähte durch die Dunkelheit. »Dee?«
    »Ja. Gebt mir nur eine Minute.«
    »Was murmelst du da?«
    »Es soll, ähm, gegen die Aufregung helfen. Ich habe es aus …« Sie hielt inne. »Altchinesischen Schriften.«
    »In welchem Dialekt?«, fragte Audrey. »Nordchinesisch? Kantonesisch?«
    »Na schön, ich hab’s aus einem Kung-Fu-Film. Aber es funktioniert. Es ist ziemlich lang, aber am Ende heißt es: ›Ich bin so stark, wie ich sein muss. Ich bin mein einziger Herr.‹«
    »Ich bin mein einziger Herr«, wiederholte Jenny. Das gefiel ihr. Julian und seine Leute mochten die Herren der Welt sein, aber sie waren nicht ihre Herren. Niemand war ihr Herr, wenn sie es nicht zuließ. »Hilft es?«, fragte sie Dee.
    »Immerhin so viel, dass ich jetzt nicht mehr ohnmächtig werde oder kotzen muss.«
    Ein Schock durchfuhr Jenny. Die bloße Vorstellung,
dass Dee ohnmächtig werden könnte, war so ungeheuerlich – so beängstigend … Dee hatte niemals solche Angst.
    Oder vielleicht doch. Vor allem wenn sie mit Dingen konfrontiert wurde, wogegen sie mit bloßer Körperkraft nicht ankam.
    »Ich werde Amnesty International beitreten, falls ich hier jemals rauskomme«, murmelte Dee. »Ich schwöre es, ich schwöre es.«
    »Meine Mutter und ich sind bereits Mitglieder«, stellte Audrey fest.
    Mrs Myers?, dachte Jenny.
    »Deine Mutter?«, fragte Dee. Audreys Mutter war eine High-Society-Dame, wie sie in den buntesten Klatschblättern zu finden war, und verstand sich bestens darauf, Fingerfood zuzubereiten und Modeschauen für wohltätige Zwecke zu organisieren. Sie und Dee mochten sich nicht besonders.
    »Vielleicht ist dieser ganze Organisationskram doch noch zu etwas nutze«, sagte Dee leise.
    Jenny hatte immer noch ein sehr schlechtes Gefühl. Sie wollte so schnell wie möglich durch dieses Gruselkabinett hindurchkommen und so wenig wie möglich davon sehen.
    Aber das ging nicht. Sie mussten jede Figur untersuchen und in alle pfirsichfarbenen Wachsgesichter schauen, deren Zähne im Scheinwerferlicht ein wenig
zu sehr glänzten. Die Haut der Wachsfiguren war von einem unwirklichen, inneren Leuchten überzogen, als seien die äußeren Schichten durchscheinend und die Farbe irgendwo darunter verborgen.
    Aber keine der gläsernen Augen sahen wie Summers Augen aus. Und nichts bewegte sich, obwohl Jenny

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