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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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es irgendwie wichtig werden würde – aber das hier hätte sie sich niemals träumen lassen.
    Sie trat zurück.
    Und quetschte die Kuppe ihres linken Zeigefingers so lange zwischen Mittelfinger und Daumen, bis sie purpurn anlief. Dann stach sie – ohne zu zögern – einmal kurz mit dem Messer hinein.

    Sie wusste nicht genau, ob sie Blut dafür brauchte. Isa, die Eisrune, die sie benutzt hatte, um den Wasserfall zu stoppen, hatte ohne Blut funktioniert. Aber sie wollte alles richtig machen und absolut sichergehen.
    Also zeichnete sie das X mit Blut aus ihrer Fingerkuppe nach. Dann trat sie wieder zurück.
    Die Figur des Zauberers war vollkommen reglos, als warte sie ab. Alles schien zu warten, das Universum schien den Atem anzuhalten. Plötzlich bekam Jenny Angst, dass sie keinen Ton herausbringen würde, aber dann blickten die dunklen Augen direkt in ihre. Eine stumme Ermutigung lag in ihnen, beinahe ein Flehen. Und sanftes Vertrauen.
    Der dritte Schritt besteht darin, den Namen der Rune laut auszusprechen.
    Jenny holte tief Luft und sagte deutlich: »Gebo.«
    Rune des Opfers, des Todes, der Aufgabe des Geistes.
    Es geschah sofort und erschreckte sie. Die Figur in der Holzkiste, das mechanische Ding, das in schwarzen Samt gehüllt war, zuckte, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Beide Arme ruckten nach oben, und der Kopf rollte wild. Die verkrustete Farbschicht auf den Wangen bekam Risse und blätterte ab. Jeder Teil der Figur, der sich bewegen konnte, schlug hektisch um sich.
    Und dann fiel die geballte Faust mit dem Zauberstab auf den Tisch. Die ganze Figur sackte in sich zusammen, und ihr Kopf klappte zurück. Es war, als sei eine Hauptfeder
zersprungen oder als seien die Drähte einer Marionette durchtrennt worden. Die karminroten Lippen waren leicht geöffnet.
    Jenny stockte der Atem. Sie starrte das Gesicht an.
    Es – hatte sich verändert. Es war immer noch aus Plastik – das rissige, sich schälende Plastik einer offensichtlich kaputten Puppe.
    Aber – der Schmerz war fort. Der Ausdruck, der Jenny zu Beginn die Brust zugeschnürt hatte, der Ausdruck unendlicher Traurigkeit war nicht mehr da. Die Lippen schienen leicht zu lächeln, die Glasaugen waren offen und blickten friedlich.
    Dieser Friede brachte eine eigentümliche Würde mit sich. Das Gesicht wirkte geduldig und beinahe nobel, obwohl es ein Puppengesicht war. Was auch immer ihr Großvater getan hatte, an welchen Geheimnissen er herumgepfuscht hatte, er hatte den Preis dafür bezahlt – und diese Puppe schien das zu wissen. Ihr Ausdruck war der einer Person, die lange auf das Ende einer Reise gewartet hatte, und die nun endlich zu Hause war.
    »Du kannst jetzt ausruhen«, sagte Jenny, und dann wischte sie sich mit ihrem Blusenärmel über die Augen.
    Ein Klicken ließ sie aufmerken. Eine Karte war im Schlitz erschienen.
    Jenny nahm sie und drehte sie um. Es stand nur ein Wort darauf.
    DANKE.

    Und dann weinte sie wirklich. Unter Tränen sah sie sich um, als könne die Seele ihres Großvaters irgendwo im Raum schweben. Doch wo immer sie hingegangen war, sie war frei.
    »Und was ist mit ihnen?«, fragte Dee. Jenny blickte zu ihren Freunden und sah, dass sie alle schnieften – und dass Dee zu dem schwarzen Schrank hinüberschaute.
    Jenny wischte sich noch einmal über Augen und Nase, dann zwang sie sich, ebenfalls hinzusehen. Slug und P. C. waren grauenvoller denn je. Denn sie waren wach.
    Ihre Augen folgten Jenny mit dem sehnsüchtigen Blick eines Hundes, der Gassi gehen wollte. Keiner von beiden hatte zu Lebzeiten besonders gut ausgesehen – aber der Tod verlieh ihnen grauenhafte Fratzen. Jenny schluckte.
    »Könnt ihr mich hören?«
    Die beiden schauerlichen Fratzen nickten.
    »Habt ihr gesehen, was ich getan habe?«
    Nick. Nick.
    »Wollt ihr – wollt ihr, dass ich das auch für euch tue?«
    Nick, nick, nick, nick, nick, nick, nick, nick …
    Jenny brach erneut in Tränen aus. Weinend hob sie das Messer. Sie konnte nicht anders, sie musste weinen. Keinen dieser beiden Jungen hatte sie je gemocht; sie hatten sie durch verlassene Straßen verfolgt, sie hatten ihr etwas antun wollen; sie waren in ihr Haus eingebrochen und hatten sie bestohlen. Und jetzt sahen sie aus
wie diese kleinen Wackeldackel, die manche Leute in ihre Autos setzten, und Jenny würde sie töten.
    Sie schluchzte, während sie die beiden X schnitzte, eins über jeden Kopf, und sich in die Fingerkuppe stach. Sie weinte noch immer, als sie das erste X

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