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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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mir.«
    Und dann tat sie genau das, was sie die ganze Zeit über am wenigsten hatte tun wollen. Sie stieg aus dem Boot und ließ sich spritzend ins Wasser gleiten.
    Das Wasser war kühl, aber es reichte ihr nur bis zu den Knien. Sie watete hindurch, ohne sich auch nur einen
Gedanken daran zu erlauben, was vielleicht darin herumschwamm. Wellen wogten auf, und ihre Oberschenkel wurden nass.
    Sie erreichte die von Julian inszenierte Szene mit wenigen Schritten und zog sich ins Trockene. Dann stand sie ihm gegenüber.
    »Sag es mir«, verlangte sie. »Falls du den Mut dazu hast.«

»Ich bin doch diejenige, um die es bei alldem geht«, sagte Jenny. »Ich bin doch diejenige, von der du willst, dass sie verzweifelt. Also rede mit mir. Lass uns persönlich werden.«
    »Nein, lass uns allgemein werden«, erwiderte Julian. »Willst du über das Leben reden?«
    In seiner Stimme schwang sanfter Triumph mit. Er war wie eine Katze, die sich gleich auf eine Maus stürzt. Als wüsste er, dass er sie hatte.
    »Hast du gewusst«, sagte er, »dass es im Kongo eine Fliege gibt, die ihre Eier in menschlichem Fleisch ablegt? Sie entwickeln sich zu kleinen weißen Würmern, die für immer in dir leben. Manchmal kommen die Würmer an die Oberfläche und du kannst beobachten, wie sie durch die Haut deines Arms kriechen. Es heißt, wenn sie in deinen Augäpfeln sind, wird es ziemlich schmerzhaft.«
    Jenny stand entsetzt da.
    »Das ist die Natur«, sagte Julian und lachte. Es klang ein wenig wahnsinnig. »Nun ja, und Menschen sind noch viel einfallsreicher. Nimm zum Beispiel die Erfindung von Senfgas. Es berührt dich und verätzt deine
Haut. Wie schon im Ersten Weltkrieg Tausende von Soldaten zu spüren bekamen.«
    Jenny wollte den Blick von Julian abwenden, aber sie konnte es nicht. Sein Haar schimmerte Rot und Purpur. Seine Augen glänzten wie Spiegel.
    »Dieses Motiv zieht sich durch die ganze Geschichte. Vor zwei Millionen Jahren haben deine hominiden Vorfahren einander gefressen. Im Peru des 13. Jahrhunderts haben sie die Rippen kleiner Jungs weit aufgebrochen, damit die Priester ihre noch schlagenden Herzen herausnehmen konnten. Heutzutage sind es eben Schießereien … Die Leute ändern sich nie.«
    Jenny stockte der Atem.
    Die sanfte, heimtückische Stimme fuhr fort. »Die Natur ist grausam und unbarmherzig.«
    »Okay …«
    »Und das Leben ist zerbrechlich und verwirrend. Und der Tod – der Tod ist unausweichlich und schlimmer als alles, was du dir vorstellen kannst.«
    »Wen schert das?«, erklang eine trotzige Stimme aus dem Boot. Es war Dee.
    Julian sprach weiter, ohne sich zu Dee umzudrehen. »Sie schert das«, sagte er. »Habe ich nicht recht, Jenny? Dich interessiert es, ob das Universum grausam und sinnlos ist. Dich interessiert es, ob du von Bösem umgeben bist.«
    Sein Blick war jetzt beinahe hypnotisch. Seine Stimme
floss in völlig vernünftigem Tonfall dahin. »Also, warum nicht verzweifeln? Was spricht schon dagegen? Die Dinge werden so viel einfacher sein, sobald du aufgegeben hast. Warum entspannst du dich nicht einfach und gibst nach …«
    Er kam auf sie zu, und Jenny wusste, dass sie nicht widerstehen konnte. Er kam, um ihr seine warme Hand in den Nacken zu legen. Vielleicht kam er auch, um ihre Hand zu drücken. Aber was immer er tat, sie würde nicht widerstehen können, denn in diesem Moment war seine Schönheit so überirdisch, dass es beängstigend war.
    »Ich glaube dir!«, erklärte sie, noch bevor er sie erreichte. Er blieb stehen, den Kopf leicht schräg gelegt, und sah sie fragend an. Plötzlich sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Du wolltest beweisen, wie viel Böses es gibt – nun gut; ich glaube dir. Ich kenne nicht alle Antworten. Ich kenne nicht einmal die dummen Fragen. Aber nicht alles ist böse, wie du sagst. Es gibt gute Menschen. Wie Aba. Wie meinen Großvater. Er starb, um mich zu retten, und er ist nicht der einzige Mensch, der für einen anderen gestorben ist. Ich kann das Böse, das dort draußen ist, nicht erklären, aber das bedeutet nicht, dass ich mich ihm anschließen sollte. Das bedeutet nicht, dass ich nachgeben sollte.«
    Das siegessichere Lächeln war aus Julians Zügen gewichen; stattdessen lag jetzt etwas Kaltes und Hässliches in seinen Augen. Aber Jenny fuhr fort, bevor er etwas erwidern
konnte, und ihre Worte überschlugen sich beinahe. »Du hast gesagt, es interessiere mich, ob das Universum grausam und sinnlos sei, und es interessiert mich tatsächlich. Aber willst

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