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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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blau beleuchtet und ebenso schauerlich wie zuvor, die Augen immer noch geschlossen. Jenny drehte ihnen energisch den Rücken zu und konzentrierte sich auf den Zauberer.
    Er bewegte sich nur noch ein kleines bisschen. Als ließe die Batterie langsam nach. Seine Hand hob den Zauberstab und senkte ihn leicht, hob und senkte ihn, eine traurige, monotone Bewegung. Sein Kopf nickte genauso schwach, und die dunklen Augen starrten ins Nichts. Ab und zu bewegte sich seine Unterlippe.
    »Großvater«, sagte Jenny förmlich.
    Denn es war ein förmlicher Augenblick. Er war ein ebensolcher Großvater wie die Großväter in den Märchen, eine mystische, archetypische Gestalt. Jemand, der in eine Geschichte gehörte.

    Dee hatte gesagt, dass es nichts gebe, was Jenny für ihn tun konnte. Und es war die Wahrheit. Sie hatte das längst akzeptiert und war sich jetzt sogar noch sicherer. Es gab keine Möglichkeit, seine Seele seinem Körper zurückzugeben – selbst wenn er noch einen Körper gehabt hätte, was Jenny bezweifelte. Es gab keine Möglichkeit, in Ordnung zu bringen oder ungeschehen zu machen, was ihm die Schattenmänner angetan hatten.
    Aber vielleicht gab es doch eine Sache, die sie noch für ihn tun konnte. Es war ihr eingefallen, während sie mit Julian gesprochen hatte – und gesagt hatte, dass ihr Großvater für sie gestorben sei. Das war er zwar nicht – nicht direkt –, aber es war seine Absicht gewesen. Und sie wusste, dass er lieber tot wäre als in diesem Zustand.
    Die Frage war nur, ob ihre Idee funktionieren würde.
    »Großvater, mir ist etwas eingefallen, etwas aus deinem Tagebuch. Eine Möglichkeit, dir zu helfen. Aber ich muss wissen, ob es funktionieren wird – und ob es das ist, was du willst.«
    Die verfilzten Wimpern schienen sich zu senken und dann wieder zu heben. Die Glasaugen sahen sie nicht an, und das rötliche Plastikgesicht veränderte seinen Ausdruck nicht. Aber sie hatte das Gefühl, dass er zuhörte.
    »Ich habe die Runen in deinem Tagebuch gesehen, und ich weiß, dass Runen etwas bewirken können, dass sie die Realität verändern können. Sie können Dinge
geschehen lassen. Und die Rune, an die ich denke, ist Gebo, Großvater, verstehst du? Gebo.«
    »Wovon redet sie?«, flüsterte Summer, die ein paar Schritte entfernt bei den anderen stand.
    »Keine Ahnung. Gebo – welche war das noch gleich?«, fragte Dee. Aber Michael sagte nur: »Scht, okay?«
    Jenny stand da, beobachtete die mechanische Figur in der schwarzen Samtrobe und wartete.
    Plötzlich rollten die Glasaugen. Die ganze Figur bewegte sich ruckartig und schlug mit dem Zauberstab auf den Tisch. Die karminroten Lippen öffneten und schlossen sich, und der Kopf nickte.
    Es war eine rasende Bewegung, als versuche eine stumme, eingesperrte Person verzweifelt, Zustimmung zu übermitteln. Zumindest hoffte Jenny, dass es Zustimmung war. Wenn sie sich irrte, hätte das schreckliche Folgen.
    »In Ordnung«, flüsterte sie. »Ich hab dich lieb, Grandpa.« Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten, aber sie würde nicht weinen, sie würde es nicht tun. Denn sie war nicht wirklich traurig. Sie war glücklich und zugleich ein wenig verängstigt. Entgegen aller Hoffnung hatte sie ihren Großvater wiedergesehen. Und dieses Wiedersehen hatte ihr geholfen, sich daran zu erinnern, wie freundlich er zu ihr gewesen war, wie sehr er sie geliebt hatte – egal, welche Fehler er auch sonst gehabt haben mochte. Sie hatte die Chance genutzt,
ihm zu sagen, dass es ihr leidtat. Und jetzt hatte sie die Chance, Lebewohl zu sagen. Es war mehr, als viele Menschen je bekamen, und mehr als Jenny je erwartet hätte.
    Sie griff nach dem Schweizer Armeemesser in ihrer Jeanstasche.
    Sie hatte schon beinahe vergessen, dass es immer noch da war, wo sie es in der Goldmine hingesteckt hatte. Es hatte den Höhleneinsturz und die Flut und alles andere überstanden. Sie war froh, denn es gehörte Tom. Und jetzt war es sehr nützlich.
    Für einen Moment hielt sie es einfach nur in der Hand, dann ließ sie die große Klinge herausgleiten. Sie setzte die Klinge an die alte Kiste an, direkt über dem Glas, drückte sie kräftig in das Holz und schnitzte einen diagonalen Strich. Und dann einen weiteren, der den ersten in der Mitte kreuzte, sodass ein X entstand. Gebo, die Rune des Opfers. Es war seltsam, dass sie bei dieser Rune bereits eine Vorahnung beschlichen hatte, als sie sie auf die Kellertür ihres Großvaters schnitzte. Sie konnte spüren, dass

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