Die Entscheidung der Hebamme
los, um Glut zu holen, denn es waren Wunden auszubrennen.
»Eure Söhne sind in der Kapelle bei Pater Hilbert und haben um Kirchenasyl nachgesucht«, wisperte sie Marthe zu. »Und der junge Christian ist mit dem Pferd des Bergmeisters zum Burgberg unterwegs, um Reinhards Braut zu warnen. Ritter Friedmar soll sich um sie kümmern.«
Diese Nachrichten nahmen Marthe einen Teil ihrer Sorgen. Doch sie sah, dass Anna dem Weinen nah war, auch wenn sie sich das nicht anmerken lassen wollte. Nicht nur, weil sie den Burgherrn aus ganzem Herzen verehrte, der ihr Leben vor vielen Grausamkeiten und einem frühen Tod bewahrt hatte. Sie und der junge Christian, der verwegene Stallbursche, der selbst mit den wildesten Pferden zurechtkam, liebten einander schon seit einiger Zeit und wollten bald heiraten. Ein nächtlicher Ritt durch den Wald war keine ungefährliche Sache. Zumal, wenn Albrecht nach dem Stallburschen suchen lassen sollte, den er einst verprügelt und sicher nicht vergessen hatte.
»Lasst mich mal durch, ich kann nicht mehr stehen, so sehr schmerzt das Bein«, ertönte eine vertraute Stimme.
Erschrocken und erleichtert zugleich, sah Marthe, dass Lukas sich humpelnd durch die wartenden Verletzten schob, um sich mit gequälter Miene auf einen Schemel hinter Marthe sinken zu lassen.
Seine Wunde war nicht tief, aber sicher schmerzhaft. Der Freund blickte finster, doch sein kurzer, verschwörerischer Blick zu Marthe sagte ihr, dass er etwas plante.
Ihre Vermutung sollte sich umgehend bestätigen.
»Los, jammere mal ein bisschen lauter«, raunte er dem ersten Patienten zu, dem Marthe eine Wunde ausbrennen musste. Der hatte keine Mühe, Lukas’ Wunsch zu entsprechen, und stöhnte herzzerreißend, selbst als Marthe mit ihrer Arbeit fertig war und sich dem Nächsten zuwandte.
Dabei begann ihr Lukas ins Ohr zu raunen, welchen Plan er schon vor Wochen ersonnen und heimlich in die Tat umgesetzt hatte.
Marthe hatte alle Mühe, sich nichts von ihrer Verblüffung anmerken zu lassen.
Lukas hatte mit Karls Schwiegervater, dem Obersteiger, dafür gesorgt, dass von einer der nahen Gruben heimlich ein Fluchttunnel zum Verlies im Bergfried gegraben wurde. Den Bergmeister, der sicherlich bei diesem Plan mitgewirkt hätte, wollten sie bewusst im Ungewissen lassen, damit er Albrecht gegenüber hinterher ruhigen Gewissens schwören konnte, von nichts gewusst zu haben. Gemeinsam mit einigen vertrauenswürdigen Bergleuten hatten der junge Christian, die Söhne der Schmiede und die anderen Burschen von Peters Bande in den vergangenen vier Wochen heimlich einen Fluchtweg gegraben. Lukas hatte vorausgeahnt, dass Christian im Verlies des Bergfrieds landen würde, und Vorsorge getroffen.
Daher rührten also die Gerüchte um die Berggeister, die sich neuerdings des Nachts in einer der Gruben zu schaffen machen schienen, so dass die furchtsamen Dörfler lieber einen Bogen um die betreffende Gegend machten!
»Es fehlt nur noch das letzte Stück, der Durchschlag. Den schaffen sie bis morgen früh. Dann holen wir Christian heraus – und niemand wird etwas merken, bevor sie ihn vor Gericht stellen wollen.«
So verblüfft und erleichtert Marthe war; ihre Zweifel überwogen. »Er wird nicht fliehen, solange Albrecht hier so viele Getreue und unsere Söhne als Geiseln hält. Das wird er nicht tun!«, wisperte sie verzweifelt.
»Keine Sorge, wir haben alles bedacht. Noch bevor sie seine Flucht bemerken, hauen wir euch mit Waffengewalt hier raus. Es ist für eine kleine Abwechslung beim Frühmahl gesorgt, das verschafft uns etwas Zeit. Und in der allgemeinen Verwirrung, für die Peters Leute sorgen, ohne dass das zu ihnen zurückverfolgt werden kann, bringen wir euch fort von hier. Es ist nicht ohne Risiko, aber das müssen wir eingehen. Besser, als ihn sterben zu sehen und vielleicht die anderen noch dazu.« Wieder verdüsterte sich Lukas’ Gesicht.
Von widerstreitenden Gefühlen hin- und hergerissen, setzte Marthe ihre Arbeit fort, bis sie schließlich von Elmars Wachen wieder in ihre Kammer geführt wurde. Sie hörte, wie sich die beiden vor der Tür postierten und da und dort eine mürrische Bemerkung austauschten, dass sie nun nicht mit den anderen in der Halle den Sieg feiern durften. Dann kniete sie nieder und begann zu beten, für Christians Leben und dass die Rettung gelingen möge.
Christians Entscheidung
Voller Unruhe wartete Marthe auf die Nachricht, dass Christians Flucht geglückt war. Ihre Füße schienen einen eigenen Willen
Weitere Kostenlose Bücher